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UN-Klimagipfel: Gemüse-Anbau in Grönland

Globale Erwärmung verändert die Lebensweise in der Arktis

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen *

Das Abschmelzen des Meereises in der Arktis und der ansteigende Meeresspiegel bedrohen Küstengebiete rund um den Globus. Grönland ist ganz anders vom Klimawandel betroffen.

Lene Holm ist besorgt. Die Programmdirektorin für Nachhaltige Entwicklung der Inuit-Organisation ICC bekommt regelmäßig Informationen über die Klimaveränderungen in einem breiten arktischen Gürtel und das Bild ist überall das gleiche. »Die Menschen sind verwirrt«, sagt Holm, deren Organisation die Ureinwohner der Region zwischen der russischen Tschuktschenhalbinsel und Grönland international repräsentiert. »Sie glaubten, das Wetter zu kennen, aber es folgt neuen Mustern und ist für sie unvorhersehbar geworden. Die Sommer sind länger, das Meereseis zieht sich zurück. Es tauchen Blumen und Vögel auf, die wir hier im Norden noch nicht gesehen haben.«

Grönländische Bauern, unterstützt von der Autonomieregierung, haben aus der Not eine Tugend gemacht und bauen Kartoffeln, Brokkoli, Kohl und Mohrrüben an. Die Grönländer schätzen die neue Vitaminquelle, die zudem billiger und frischer ist als die üblichen Lieferungen aus Dänemark.

Eine Seite der Klimaveränderungen ist es, wie die Bevölkerung vor Ort sie erlebt. Eine andere, was Wissenschaft messen und berechnen kann. Klima- und Eisforschung sind relativ junge Zweige; Untersuchungen reichen selten mehr als 20 Jahre zurück. Zudem sind Wissenschaftler selten mehr als zwei Wochen vor Ort, um Untersuchungen vorzunehmen, und Messreihen sind daher lückenhaft. Das Dänische Meteorologische Institut und das Schottische Meeresforschungsinstitut haben deshalb ein mobiles Messinstrument entwickelt. Lars Jeremiassen und Rasmus Avike, Jäger aus dem nordgrönländischen Quanaq, haben es auf ihre Hundeschlitten montiert. Sobald sie fahren, misst es automatisch die Dicke des Eises und sendet die Daten per Satellit an die Institute. »Lars und Rasmus haben eine Intuition entwickelt, was das Eis halten kann, aber wir brauchen Daten. Und die liefern sie uns frei Haus«, erläutert Projektleiterin Susanne Hanson.

Die Auswertung ist relativ simpel – je dicker das Eis ist, desto älter ist es und umso langsamer schmilzt es ab. Neues Eis, das sich weiterhin im Winter bildet, schmilzt dagegen im folgenden Sommer. Offenes Meer aber hat eine geringere Reflexionsfähigkeit als Eis, wird durch die Sonne erwärmt und verstärkt den gegenseitigen Prozess. Jäger, egal ob Mensch oder Eisbär, benötigen aber dickes Eis für die Robbenjagd – sie benutzen die gleiche Jagdtechnik vom Eisrand. Wenn heute in der Nähe menschlicher Siedlungen häufiger »Nanok« (Eisbär) gerufen wird, bedeutet das nicht, dass der Bestand wächst, sondern dass dem König der Arktis die gewohnte Nahrung knapp wird und er nach Küchenabfall sucht. Damit werden sie zu einer Gefahr für die Bewohner und dürfen erlegt werden.

Dass das Meereseis stark schrumpft, bestätigen Satellitenmessungen. Derzeit beträgt der Schwund zehn Prozent per Jahrzehnt. Setzt sich der Trend ungebremst fort, wird ein eisfreies Arktisches Meer für 2050 erwartet. In einem komplizierten Zusammenspiel zwischen einem kräftigeren Meeresstrom an der grönländischen Westküste, sich abneigenden Rändern des Inlandeises und höherer Fließgeschwindigkeit des Gletschereises kalben mehr und größere Eisberge – der Masseverlust an Eis lässt letztlich den Wasserstand der Weltmeere ansteigen. Die Berechnungen sagen einen Anstieg des Meeresspiegels zwischen einem und drei Meter bis Ende des Jahrhunderts voraus. Dies verlangt vielerorts eine Anpassung der Infrastruktur in den Küstengebieten und Investitionen in schwer voraussagbarer Höhe. Grönland wird dieses Problem jedoch nicht haben: Im gleichen Takt, wie das Eis abschmilzt, wird sich hier der Untergrund anheben. Gleiches erlebte Skandinavien nach dem Ende der letzten Eiszeit.

Bei einer Veranstaltung im Kopenhagener Grönländerhaus wurde kürzlich über Klimaschwankungen der letzten rund 4000 Jahre diskutiert. Steigende Temperaturen, die wahrscheinlich die Jagd auf Robben und Rentiere entscheidend behinderten, führten zum Aussterben oder Abwandern der ersten Bevölkerung der größten Insel der Welt. Ein Zuhörer aus dem ostgrönländischen Angmassalik spitzte die Problematik zu mit der Frage: »Wenn wir immer noch so leben würden wie unsere Vorfahren, wären wir vom Aussterben bedroht?« Ja, durchaus möglich, lautete die Antwort der Experten.

So schlimm wird wohl es nicht kommen mit den heutigen Möglichkeiten, aber die grönländische Lebensweise wird sich weiter kräftig verändern. Vom menschlichen Handeln wird es abhängen, ob es künftig mehr Kartoffeln oder Robben geben wird.

* Aus: Neues Deutschland, 29. November 2010


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