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"Wir setzen auf radikalen Wandel dieses Systems"

In Costa Rica rechnet die linke "Frente Amplio" mit guten Wahlchancen. Spitzenkandidaten nominiert. Ein Gespräch mit Eva Carazo und José Maria Villalta

José Maria Villalta (32) und Eva Carazo (34) wurden am Sonntag (13. Sept.) in Costa Rica zu Spitzenkandidaten der »Frente Amplio« (Breite Front) gewählt. Die linke Partei tritt am 7. Februar zu den Parlamentswahlen an

Mit José Merino stellte Ihre Partei bisher nur einen einzigen Parlamentarier. Nun sieht es so aus, daß Sie beide und möglicherweise einige weitere Mitstreiter bei den Wahlen am 7. Februar den Sprung in die oberste Volksvertretung schaffen. Welche Politik möchten Sie dort umsetzen?

Carazo: Wir setzen auf einen radikalen Wandel dieses Systems. Denn es schließt Menschen aus und konzentriert den Reichtum in immer weniger Händen. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das schlecht -- und deswegen kämpfen wir für eine solidarische und gerechte Gesellschaft. Erreichen wollen wir das Hand in Hand mit den sozialen Bewegungen. Jede Art von Privatisierung lehnen wir ab.

Villalta: Unsere Partei lebt von den Kämpfen der sozialen Bewegungen. Wir verteidigen die Rechte der Arbeiterklasse und ihre sozialen Errungenschaften. Unser Selbstverständnis ist ökologisch, feministisch und kämpferisch. Der Wildwest-Kapitalismus hat viele Menschen in die Armut gerissen und die Ghettos um unsere Städte wachsen lassen.Viel Land liegt brach, weil die Kleinbauern im Stich gelassen werden. Wir brauchen daher ein ganz anderes System des Wirtschaftens und der Verteilung des Reichtums.

Sie beide sind in Costa Rica als führende Aktivisten der Umwelt- und der Sozialbewegung bekannt. Wie wollen Sie damit umgehen, daß Ihnen künftig möglicherweise als Parlamentarier Privilegien zustehen? Sehen Sie nicht die Gefahr, dann »abzuheben«?

Carazo: Die Privilegien der Politiker müssen stark begrenzt oder ganz abgeschafft werden. Wer politisch arbeitet, sollte das tun, weil er einer gesellschaftlichen Verpflichtung nachkommt und weil er für die Prinzipien streitet, an die er glaubt. Aber nicht, weil er in den Genuß von Privilegien kommen möchte. Eine wichtige Rolle spielen die Partei oder die Bewegung, aus der der jeweilige Aktivist kommt. Die müssen nämlich auch unterstützt werden, was sicherlich zu den Aufgaben eines Abgeordneten gehört.

Villalta: Die »Frente Amplio« hat klare Prinzipien: Abgeordnete sind zu Transparenz und Ehrlichkeit verpflichtet. Sie müssen einen sparsamen Lebensstil pflegen und stets die Tür offen halten für ihre Wähler und für Aktive der so­zialen Bewegung. Es bringt nichts, wenn wir Aktivisten ins Parlament, in den Elfenbeinturm also, entsenden und diese sich dann auf die Abgeordnetenarbeit beschränken. Wichtiger ist der Kontakt nach draußen, zu der Bewegung, deren Stimme im Parlament wir sind.

Zur Zeit laufen Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen zwischen Zentralamerika und der Europäischen Union (EU). Welche Meinung hat Ihre Partei dazu?

Villalta: Der Vertragstext unterscheidet sich kaum vom Freihandelsabkommen CAFTA mit den USA, das wir hart bekämpft haben. In Form und Inhalt sind beide fast gleich. Wir kritisieren erstens, daß es keine fairen Verhandlungen gibt -- Europa nutzt seine Stärke, um seine Bedingungen durchzudrücken. Zweitens den vorgesehenen Freihandel, bei dem die Bauern in unserer Region den kürzeren ziehen, weil sie nicht gegen die hochsubventionierte Agrarindustrie Europas ankommen. Das Abkommen mit der EU bringt dieselben Themen wie CAFTA auf die Tagesordnung: Investitionen sowie die Privatisierung von Dienstleistungen und geistigem Eigentum. Dabei gehen die Europäer noch über CAFTA hinaus. Es geht z. B. auch um die Privatisierung der Trinkwasserversorgung -- in Europa gibt es transnationale Konzerne, die ein großes Interesse daran haben.

Ist der von Venezuela angestrebte »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« eine Option für Costa Rica? Sollte sich Ihr Land dem progressiven Staatenbund ALBA annähern, der von Venezuela angeführt wird?

Carazo: Wir müssen unsere eigene Version des Sozialismus anhand der Bedingungen in unserem Land suchen.

Interview: Torge Löding (San José)

* Aus: junge Welt, 15. September 2009


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