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Unruhe in Wukan

Bauernprotest gegen Landverpachtungen in China

Von Sebastian Carlens *

Auseinandersetzungen zwischen Bauern und lokalen Funktionären haben im südchinesischen Wukan zu Ausschreitungen geführt. Der Ort in der Provinz Guangdong gilt mit seinen 20000 Einwohnern nach chinesischen Verhältnissen als Dorf. Die Einwohner leben von Fischerei und Ackerbau. Entzündet haben sich die Proteste am Versuch lokaler Funktionäre, Grund und Boden an ein Immobilienunternehmen zu verpachten – die Bewohner bemängeln zu niedrige Entschädigungen. Eine neue Stufe der Eskalation wurde erreicht, als Hunderte Demonstranten Straßensperren errichteten und Polizeikräfte mit einer Abriegelung des Dorfes reagierten. Der Bürgermeister der Stadt Shanwei hat am Mittwoch angekündigt, sowohl gegen gewalttätige Demonstranten als auch gegen korrupte lokale Funktionäre mit aller Härte vorgehen zu wollen, teilte die Nachrichtenagentur Xinhua am Mittwoch (14. Dez.) mit.

Die Randale in Wukan ist kein Einzelfall, allein 2007 gab es nach chinesischen Untersuchungen 84000 Fälle von örtlichen Auseinandersetzungen. Die sozialen Proteste sind jedoch nicht auf das ländliche China beschränkt: Die Volksrepublik zählt zu den streikfreudigsten Gebieten der Erde. Die Streiks und sozialen Proteste sind längst nicht durchweg illegal, ganz im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen in der westlichen und speziell deutschen Presse. Oft richten sie sich gegen Fälle von lokaler Korruption. Die Kommunistische Partei Chinas und chinesische Justiz gehen hart gegen korrupte Kader vor, auch die Todesstrafe kommt bei schweren Fällen von Korruption zur Anwendung. Beseitigt ist diese traditionelle, im Konfuzianismus sogar festgeschriebene Geißel der chinesischen Gesellschaft, die Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft, allerdings noch lange nicht.

Nicht nur die einseitige Darstellung chinesischer Sozialproteste in den westlichen Medien, auch die oft vorgenommene Verzerrung der Fakten in diesen Berichten ist bemerkenswert: stern.de führt den aktuellen Konflikt in Wukan beispielsweise auf den »Verkauf von Land« durch die Lokalregierung an ein Unternehmen zurück.

Land kann in der VR China nicht verkauft werden, denn der Staat ist alleiniger Besitzer sämtlichen Grundes und Bodens, der an Unternehmen, Genossenschaften und Einzelpersonen verpachtet wird. Mit Beginn des Wirtschaftsbooms in den frühen achtziger Jahren, als die Großstädte des Landes noch einmal erheblich wuchsen, erschloß sich für viele Bauern und Gemeinden ein ganz neuer Einkommenszweig: Gerade an der dicht besiedelten Ostküste, besonders in der »Boom-Provinz« Guangdong, in der auch das Dorf Wukan liegt, überließen viele Kommunen ihre einst agrarisch genutzten Gebiete den expandierenden Städten. Die ersten Profiteure des Booms waren tatsächlich die Kommunen und ihre Bewohner in den Randgebieten der Megastädte: sie verpachteten ihr gepachtetes Land an die Städte weiter und lebten häufig gut – und besser als viele Städter – von diesen Einnahmen. Und immer noch ist hier viel Geld zu machen, insbesondere auch für örtliche Funktionäre, die nebenbei in die eigene Tasche wirtschaften.

Die Umwandlung des einst landwirtschaftlich geprägten China in eine moderne Industriegesellschaft geht mit Urbanisierung und einem steten Rückgang der in der Landwirtschaft tätigen Menschen einher. Noch immer leben und arbeiten 800 Millionen der 1,4 Milliarden Chinesen in der Landwirtschaft. Die chinesische Gesellschaft versucht sich an dem kolossalen Experiment, binnen kurzer Zeit Hunderte Jahre Rückstand aufzuholen. Soziale Auseinandersetzungen sind nicht nur »Nebenwirkung«, sondern auch Bestandteil bei der Suche nach einem chinesischen Weg in die Moderne.

* Aus: junge Welt, 16. Dezember 2011


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