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Dem Traum noch nicht näher

Millionen Chinesen suchen in den Metropolen nach bezahlbarem Wohnraum

Von Anna Guhl *

Als Li und ihr Freund Peng Ende der 90er Jahre gemeinsam ein kleines Zimmer in Shanghai mieteten, waren sie fest davon überzeugt, den Sprung in die Großstadt geschafft zu haben.

Li und Peng, in der Provinz aufgewachsen, hatten mit sehr guten Schulabschlüssen einen der begehrten Studienplätze in Shanghai ergattern können. Mit dem Diplom einer bekannten Universität in der Hand und mehreren Arbeitsangeboten in der Tasche wähnten sie sich den eigenen vier Wänden ganz nah. Zuversichtlich stürzten sie sich in die Arbeit, gönnten sich wenig und sparten, wo immer es möglich war. Doch so oft sie ihr Gespartes zählten – es reichte weder für eine abgewohnte Wohnung aus den 80er Jahren noch für die erste Rate zur Bezahlung einer der schmucken Apartmentwohnungen in den zahlreichen neuen Wohnanlagen. Zehn Jahre nach Einzug in ihr kleines Zimmer mit Gemeinschaftsküche und -bad haben sie tausende Wohnungsanzeigen studiert, hunderte Wohnungen besichtigt und viel für das künftige Heim geopfert: Die Tochter wächst bei den Großeltern auf und erkennt sie kaum noch. Sie gehen weder ins Kino, noch fahren sie in den Urlaub, selbst die freien Tage während des Frühlingsfestes verleben sie getrennt bei den Eltern. Doch die eigene Wohnung ist ein Traum geblieben.

Millionen junger Menschen in China teilen das Schicksal von Li und Peng. Ehen werden erst geschlossen, wenn das Paar in die eigene Wohnung ziehen kann. Beziehungen zerbrechen, weil weder die jungen Leute noch die Eltern das Geld für ein eigenes Heim aufbringen. Junge Männer sehen sich erst nach dem Erwerb einer Eigentumswohnung imstande, auf Brautschau zu gehen.

Als Ende der 90er Jahre die Verteilung von Wohnraum durch die jeweilige Arbeitseinheit beendet und der gesamte Wohnungsbestand privatisiert wurde, begann der Sturm auf privates Wohneigentum. Bauunternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden. Zunächst wurde Wohnraum im kleinen Stil und zu moderaten Preisen geschaffen. Wo heute pro Quadratmeter umgerechnet 2000 bis 3000 Euro hingeblättert werden müssen, wurden vor gut zehn Jahren für denselben Betrag kleine Apartmentwohnungen angeboten. Seit 2001 haben sich die Wohnungspreise in Peking und den südlichen Metropolen durchschnittlich verfünffacht. Schnell bildete sich ein privater Wohnungsmarkt. Wohnungen wurden gekauft und wieder verkauft. Investoren erwarben Wohnraum allein mit dem Ziel, das Objekt nach kurzer Zeit mit reichlich Gewinn wieder zu veräußern.

Wie Li und Peng sehen viele junge Leute ihre Zukunft allein in der Großstadt. In die Wachstumsmetropolen Shanghai, Peking, Kanton zog es sie, und die Wohnungsbaugesellschaften kamen kaum nach. Kaum auf dem Reißbrett entworfen, waren die ersten Wohnungen schon verkauft. Die Preise stiegen schneller als die Einkommen. Und doch, wer Geld übrig hatte, legte es in Immobilien an. In China ist die Wohnung nicht nur Statussymbol, sie gilt auch als Altersversorgung. Nichts sichert heute in China ein wenig Vermögen so wie eine Immobilie. Die Zinsen für Spareinlagen liegen dagegen weit unter der Inflationsrate.

Aber auch in China zeigt der Immobilienmarkt erste Zeichen von Überhitzung. Experten warnen, das ungezügelte Steigen der Immobilienpreise sei nicht gesund und berge Protestpotenzial. Der Vizevorsitzende des Finanzausschusses des chinesischen Volkskongresses, He Keng, erklärte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Xinhua, auch er könne sich keine Wohnung leisten. Die derzeitigen Preise überstiegen seine liquiden Mittel weit. In den Großstädten betrage der Quadratmeterpreis häufig das Dreifache des Monatseinkommens eines gut verdienenden Angestellten. Wohnungen werden heute häufig nicht gekauft, um darin zu wohnen, sondern der Spekulation wegen, schlussfolgert He Keng.

Doch bevor Wohnungen gebaut werden, brauchen die Unternehmen Grund und Boden. Den stellt ihnen die Regierung zur Verfügung, denn er ist weiterhin in staatlicher Hand. Und hier beginnt das Dilemma der derzeitigen Immobilienpolitik. Landwirtschaftliche Flächen werden eingezogen, Dörfer abgerissen, die Betroffenen werden im günstigen Fall mit Entschädigungen abgespeist. Ende vergangenen Jahres verbrannte sich in der Provinz Sichuan ein Mann aus Protest gegen den Abriss seines Hauses. Oft werden Bewohner mit Polizeigewalt aus ihren zum Abriss bestimmten Häusern herausgetragen. Zwar schützt ein im Jahr 2007 in Kraft getretenes Gesetz private Vermögen, aber eben nur die erworbene Wohnimmobilie. Grund und Boden bleiben Staatseigentum und sind längstens für 70 Jahre verpachtet – mit der Einschränkung, dass der Staat den Boden jederzeit konfiszieren kann, »wenn dies für das Allgemeinwohl erforderlich ist«. Und das ist häufig der Fall, denn Lokalregierungen haben dank Steuereinnahmen und Kreditzinsen Anteil am Gewinn der Wohnungsbauunternehmen. Viele Beamte bereichern sich auch illegal, indem sie bei der Vergabe von Bauland und Lizenzen unter der Hand zulangen. Bis zu 300 Prozent Gewinn auf das Eigenkapital sollen laut Vizechefin der chinesischen Zentralbank, Frau Wu Xiaoling, Immobilienunternehmen in den goldenen Jahren erwirtschaftet haben. Acht der zehn reichsten Geschäftsleute Chinas waren 2007 auf dem Immobiliensektor tätig.

Das Interesse an Wohnraum in den Metropolen bleibt indes ungebrochen hoch. Zu viele Menschen versprechen sich davon die Verwirklichung ihres Lebensglücks und den Aufstieg ihrer Kinder. Hier gibt es die besten Schulen und Universitäten und die interessantesten Jobs. Da spielt die Tatsache, dass sich die Bauqualität in den letzten Jahren kaum verändert hat, nur eine untergeordnete Rolle. Zwar werden die besten Materialien verwendet, doch verarbeitet werden sie von ungelernten Wanderarbeitern. Den qualifizierten Bauberuf gibt es in China nicht, Berufsausbildung ist ohnehin nicht gesellschaftsfähig, körperliche Arbeit weithin verpönt.

So wie Li und Peng leben heute noch über zehn Millionen Menschen in den Städten auf einer Pro-Kopf-Wohnfläche von unter zehn Quadratmetern. Auch deshalb versuchte Peking jüngst mit veränderten Bestimmungen für die Kreditvergabe und Förderung von bezahlbarem sozialen Wohnraum dagegenzuhalten.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2010


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