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Chinas langer Weg zum »kleinen Wohlstand für alle«

Vor dem Führungswechsel im Reich der Mitte

Von Lutz Pohle, Peking *

Mitte Oktober, hieß es lange, werde der 18. Parteitag der KP Chinas beginnen. Ein genaues Datum aber blieb ungenannt. Bis das Politbüro Ende September beschloss, den Parteitag am 8. November zu eröffnen. Zugleich wurde mitgeteilt, dass der frühere Spitzenfunktionär Bo Xilai aus der Partei ausgeschlossen worden ist und demnächst vor Gericht gestellt wird.

Die Verschiebung des Parteitags auf Anfang November fällt nach den wilden Spekulationen der letzten Wochen immerhin moderat aus. Manche Beobachter führen sie darauf zurück, dass man in Peking den Ausgang der US-Präsidentenwahl abwarten wollte. Das aber ist wenig wahrscheinlich - werden es doch hauptsächlich innenpolitische Themen sein, die das Ereignis des Jahres in China prägen. Vor allem lautet die Frage, ob und vor allem wie die wirtschaftlichen Reformen fortgesetzt, aber auch ob und wie die bisher nur halbherzig in Angriff genommenen politischen Reformen weitergeführt werden. Ebenso wäre zu beantworten, wie die unübersehbar gewachsenen sozialen Gegensätze und die gravierenden Umweltprobleme überwunden werden sollen.

Dabei fällt die Bilanz der vergangenen Jahrzehnte durchaus gut aus: Nach fast 35 Jahren Politik der Reform und Öffnung mit durchschnittlich 10 Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum ist China in die Liga der wirtschaftlichen und politischen Großmächte zurückgekehrt. Heute werden über die Hälfte aller Computer und Mobiltelefone der Welt in China hergestellt. Ein Drittel bis zur Hälfte aller weltweit verkauften Textilien oder Spielzeuge sind »Made in China«, ähnliches gilt für Waschmaschinen, Kühlschränke, Flachbild-Fernsehgeräte, Sportschuhe und vieles andere. Viele ausländische Unternehmen profitieren vom Chinaboom: Volkswagen etwa produziert und verkauft mittlerweile mehr Autos in China als in Deutschland. Aber auch Universitäten in Deutschland werben intensiv um chinesische Studenten. Touristen und Geschäftsleute aus China haben die Japaner als größte asiatische Reisenation abgelöst.

In Lande selbst ist das Wachstum überall sicht- und erfahrbar: Man kann heute mit durchschnittlich 300 km/h im Hochgeschwindigkeitszug binnen fünf Stunden die 1300 Kilometer von Peking nach Shanghai rasen. Gab es in den 80er Jahren gerade mal einige hundert Kilometer Autobahn, sind heute 28 von 29 Hauptstädten der Provinzen und autonomen Gebiete durch mehrspurige Autobahnen miteinander verbunden. Die wichtigsten Flughäfen sind neu gebaut oder renoviert. Die Stadt Qingdao schickt sich gerade an, den weltgrößten Hafen zu bauen. Computer und Mobiltelefone sind bis in den letzten Winkel des Landes verbreitet. Gebaut wird in ungeahnten Größenordnungen. Standen in den 80er Jahren pro Kopf im Durchschnitt 4 bis 7 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung, sind es heute deutlich über 10.

Dennoch warnt Ministerpräsident Wen Jiabao davor, bei allem berechtigten Stolz die Probleme des Landes zu vergessen. Bevor China den erstrebten »kleinen Wohlstand für alle« erreicht, habe es noch einen langen Weg vor sich, sagte der scheidende Premier Ende September. Deshalb müsse man am Weg wirtschaftlicher Reformen festhalten und politische, kulturelle und soziale Reformen in Angriff nehmen. Wen forderte erneut, den Übergang zu einer nachhaltigen und innovativen Wirtschaftsweise mit der Binnennachfrage als Haupttriebkraft zu vollziehen.

Auf einem Forum an der Zen-tralen Parteihochschule in Peking hieß es im Juli noch deutlicher, die wirklichen Schwierigkeiten für China seien »nicht die der internationalen Lage«, sie lägen auch nicht an der Peripherie des Landes, sondern »bestehen darin, die Reformen fortzusetzen und zu nachhaltigem und ökologischem Wirtschaftswachstum im Innern überzugehen«. Direktor der Zen-tralen Parteihochschule ist übrigens der künftige Parteichef und Staatspräsident Xi Jinping.

Wen Jiabao weiß, wovon er spricht. Der Premier, der unermüdlich durch das Riesenland reiste, gilt als volksnah, als Kümmerer. Im Internet und im Volksmund wird er gern als »Onkel« oder »Opa Wen« bezeichnet. In diesem Jahr wird das Wirtschaftswachstum erstmals unter 8 Prozent fallen. Es heißt, jeder Prozentpunkt unter der 8-Prozent-Marke bedeute in China rund eine Million mehr Arbeitslose.

Peking weiß auch von der enormen Schere zwischen Arm und Reich. Die Kluft zwischen den reichen, wirtschaftlich hoch entwickelten Provinzen im Osten und Süden und den Gebieten im Landesinneren oder den Grenzregionen ist gewachsen. Bildungs- und Gesundheitssystem müssen dringend umgebaut und modernisiert werden. Der Aufbau einer funktionierenden Altersversorgung kommt nicht schnell genug voran, aber die Bevölkerung altert rapide. Enorme Ressourcen an Rohstoffen, Energie und Arbeitskraft werden verschwendet, Umwelt und Natur werden geschädigt oder vernichtet. Schlechte Qualität und nutzlose Produkte belasten Ergebnisse und Ruf der Wirtschaft. Zudem haben immer neue Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch das Vertrauen in die Partei untergraben. Streiks und Unruhen zeugen von der Unzufriedenheit im Land. Kritiker halten der Führung vor, dass man weiter denn je von der 2007 proklamierten »harmonischen Gesellschaft« entfernt sei. Und auch auf die Frage, wie der stets propagierte »Sozialismus chinesischer Prägung« oder der »Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten« aussehe, antworten viele, besonders junge Leute in China mit einem Schulterzucken.

Der Parteitag findet schließlich in einer gravierend veränderten internationalen Situation statt. Krisen erschüttern das globale Wirtschaftssystem, in das China heute stärker denn je eingebunden ist. Die Exportwirtschaft, einst Motor des Wachstums, hat am meisten gelitten. Der starke chinesische Yuan und die gewaltigen Devisenreserven des Landes erweisen sich nicht nur als Segen. Die USA bereiten sich auf die neue geostrategische Situation vor, die durch den bevorstehenden Rückzug aus Afghanistan entsteht, und erhöhen ihre militärische Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum. Und Chinas Nachbarn fühlen sich durch die wirtschaftliche und politische Macht des Riesenlandes unter Druck gesetzt oder bedroht, was auch im Wiederaufflammen territorialer und regionaler Konflikte zum Ausdruck kommt.

Auf dem Parteitag wird aller Voraussicht nach der Generationswechsel in der Führung eingeleitet werden: Staats- und Parteichef Hu Jintao soll seine Parteiämter an den bisherigen Vize Xi Jinping abgeben, der zum Generalsekretär gewählt werden soll. Nach der Neuwahl des Nationalen Volkskongresses im Frühjahr 2013 dürfte er auch Staatspräsident werden. Nachfolger Wen Jiabaos soll der jetzige Vizepremier Li Keqiang werden, der ebenso in höchste Parteiämter aufrücken wird.

Sieben der neun Sitze im Ständigen Ausschuss des Politbüros müssen neu besetzt werden. Nach der Affäre um Bo Xilai, Chongqings früheren Bürgermeister, wird mit Spannung erwartet, wer in die Machtzentrale einzieht. Beobachter in Peking werten Bos Parteiausschluss und das angekündigte Gerichtsverfahren als Zeichen dafür, dass sich der reformorientierte Flügel um die alte und neue Parteiführung durchgesetzt hat. Sie sehen das Vorgehen gegen Bo Xilai als Absage an alle Kräfte, die Reformen bremsen und zu alten, linkskonservativen Methoden der Politik zurückkehren wollten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Oktober 2012


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