Trumpf im "Großen Spiel"
Nach den Unruhen im chinesischen Uiguren-Gebiet sagt Hu Jintao G-8-Teilnahme ab
Von Rainer Rupp *
Nach den Unruhen vom vergangenen Sonntag hat sich die Lage in Ürümqi,
Hauptstadt der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang, wieder
stabilisiert. Am Mittwoch morgen wurde das seit Sonntag geltende
nächtliche Ausgangsverbot aufgehoben. Die Versuche der mit Knüppeln und
Eisenstangen bewaffneten Han-chinesischen Gruppen am Dienstag, in Ürümqi
auf Rachefeldzug gegen Uiguren zu gehen, konnte weitgehend von den
inzwischen dort eingesetzten 20000 Sicherheitskräften unterbunden
werden. Trotzdem sagte der chinesische Staatschef Hu Jintao angesichts
des erschreckenden Ausmaßes der Auseinandersetzungen seine Teilnahme am
G-8-Gipfel in Italien ebenso ab wie den im Anschluß geplanten
Portugal-Besuch - ein starker Gesichtsverlust für Peking auf
internationalem Parkett.
Auslöser der Unruhen von Sonntag abend war der Tod zweier uigurischer
Wanderarbeiter in einer Tausende Kilometer entfernten Fabrik der
südchinesischen Stadt Shaoguan. Die beiden waren bei
Auseinandersetzungen um geplante Entlassungen totgeschlagen worden, auf
brutale Weise, wie es hieß. Die Nachricht davon erreichte die
Uiguren-Provinz nicht über Presse oder Hörfunk. Vielmehr wurde ein Video
per Handyverkehr versandt. Ob es sich dabei tatsächlich um authentische
Bilder aus Shaoguan handelte, wird schwerlich zu klären sein. Fest
steht: Die Wirkung der Bilder heizte die Stimmung in Xinjiang an.
Ähnlich wie der jungen Iranerin Neda Agha-Soltan in Teheran, deren
Ermordung ebenfalls als Video tausendfach über Programme wie Twitter an
Handys verschickt worden war, schürte auch in diesem Fall ein anonym
über Mobilfunk massenhaft verbreiteter Film die Empörung der Menschen.
Deren Wut wurde dann über SMS-Botschaften gegen Han-chinesische
Mitbürger gelenkt und Aktionen koordiniert. Die vorläufige Bilanz der
Unruhen: Mindestens 156 Menschen starben, darunter auch Kinder, über
tausend Menschen wurden verletzt. Bei den Toten handelt es sich
größtenteils um Han-Chinesen.
Als eine der ersten Maßnahmen schalteten Provinzbehörden den aus dem
Ausland gesteuerten Twitter ebenso ab wie die Webseiten der sogenannten
Drei Kräfte. Als solche werden jene drei uigurischen Gruppen offiziell
bezeichnet, die entweder einem militanten Nationalismus, einem
religiösen Extremismus oder einem rassisch begründeten, gewalttätigen
Separatismus anhängen. Die Anführer dieser Gruppierungen leben in der
Regel im westlichen Exil. Ihr Ziel ist die Schafffung eines unabhängigen
uigurischen Staates »Republik Ost-Türkestan«, der sich hauptsächlich aus
dem Territorium der alten chinesischen Provinz Xinjiang, aber auch aus
Teilen der benachbarten zentralasiatischen Republiken Kasachstan,
Kirgisien und Tadschikistan zusammensetzt.
Der Gouverneur von Xinjiang, Nuer Baikeli, beschuldigte am Dienstag mit
dem in München beheimateten »Weltkongreß der Uiguren« eine dieser
Gruppen, die Unruhen organisiert zu haben. Der Kongreß wird von der
millionenschweren uigurischen Geschäftsfrau Rebiya Kadeer angeführt, die
im Exil in den USA lebt. Dort verfügt sie über gute politische Kontakte
und genießt vielfältige Unterstützung; schließlich macht das »Autonome
Gebiet Xinjiang« nicht nur ein Sechstel des chinesischen Territoriums
aus, es ist auch reich an Rohstoffen, insbesondere an Öl und Gas. Eine
unabhängige »Republik Ost-Türkestan« wäre ein neuer Trumpf im »Großen
Spiel« der internationalen Machtzentren. China würde von Zentralasien
abgeschnitten, ein Hauptkonkurrent der USA auf diesem bedeutenden
geostrategischen Feld wäre ausgeschaltet.
* Aus: junge Welt, 9. Juli 2009
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