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Ein explosives Bündel von Problemen

Der Konflikt mit den Uiguren ist auch vom "Krieg gegen den Terror" geprägt

Von Wolfram Adolphi *

Von Peking nach Ürümqi, der Hauptstadt des nordwestchinesischen Autonomen Gebietes Xinjiang-Uigur, ist es etwa so weit wie von Berlin nach Bagdad, der Hauptstadt Iraks – knapp 3800 Kilometer. Hier wie da geht es um einen Konflikt mit dem Islam. Der Unterschied: Berlin und Bagdad liegen in unterschiedlichen Staaten, Peking und Ürümqi hingegen nicht. In Irak haben die USA mit Unterstützung einer »Koalition der Willigen« einen Krieg mit Zehntausenden Todesopfern geführt, um, wie sie sagten, den »islamistischen Terror« zu besiegen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, damals noch in der Opposition, hätte sich gern beteiligt. In Afghanistan glaubt sie nun, das in Irak Versäumte nachholen zu müssen und stockt die deutschen Truppen am Hindukusch weiter auf.

Xinjiang und der »Krieg gegen den Terror« hängen enger zusammen, als uns der Meinungshauptstrom glauben zu machen versucht. Die Tragödie der blutigen Zusammenstöße von Ürümqi ist ein Menetekel der Ungewinnbarkeit dieses unseligen Krieges, ein Mahnzeichen seiner unübersehbaren, den Weltfrieden aufs Spiel setzenden Weiterungen.

Dies sei zu weit gegriffen? Ganz und gar nicht. In Xinjiang, einer zentralasiatischen Region, in der um die acht Millionen Uiguren muslimischen Glaubens leben und die an die vom Krieg zerrütteten Nachbarstaaten Pakistan und Afghanistan, zugleich auch an die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan und Tadshikistan grenzt, sind die Probleme zu einem explosiven Bündel geschnürt.

Da ist erstens das Nationalitätenproblem in China selbst. Es ist ein uraltes Problem. Die Uiguren zählen wie die Kasachen, Kirgisen, Usbeken und andere zu den Turkvölkern. Diese betrachten das Gebiet zwischen Kaspischem Meer und der Mongolei – im Norden begrenzt durch eine Linie in Höhe des Balchasch-Sees, im Süden bis in die nördlichen Grenzregionen Irans und Afghanistans reichend – als ein sie alle verbindendes Turkestan. Schon immer war dieses Turkestan Objekt der Begierde anderer.

Im siebenten und achten Jahrhundert arabischer und so den frühen Islamismus verbreitender Herrschaft unterworfen, wurde es später zum Zankapfel von Persern, Chinesen und Russen. Mitte des 19. Jahrhunderts gliederte die chinesische Zentralgewalt Ost-Turkestan unter dem Namen Xinjiang – »neues Land« – ins chinesische Kaiserreich ein, um prompt mit gewaltigen »Mohammedaneraufständen« konfrontiert zu sein, die sich nach der Revolution von 1911 auch gegen Tschiang Kaischek fortsetzten. Als sich die chinesische Rote Armee 1934/35 im Bürgerkrieg mit ihrem »Langen Marsch« der Zerschlagung durch die Tschiang-Kaischek-Truppen entzog, berührte sie auch Xinjiang, geriet in blutige Schlachten mit dortigen uigurischen Stammesfürsten. Und auch in der Zeit der Volksrepublik hörten die Spannungen nie auf, setzten sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen fort.

Die 1978 in Gang gesetzten Reformen, die bis heute den großen Städten im Osten – in denen vor allem die Han, die »eigentlichen« Chinesen leben – so viel wirtschaftlichen Aufschwung, so viel Gewinn an Lebensstandard brachten, verschärften die sozialen und ethnischen Spannungen weiter. Hier liegt eine Ähnlichkeit mit den Unruhen in Tibet im vergangenen Jahr: Die Reisefreiheit und die Freiheit zum kapitalistischen Unternehmertum sind Quellen neuer Widersprüche, Quellen auch einer Belebung des Nationalismus der Han.

Da ist zweitens das Problem des uigurischen Separatismus. Wobei – muss das ein Problem sein? Wäre es nicht leicht zu lösen, indem man sich auf das Einfachste besinnt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also auch: das Recht auf Lostrennung? Das ist aus mindestens drei Gründen nicht so einfach, wie es scheint:

a) wegen der vielfältigen ethnischen Vermischung, die in Xinjiang längst stattgefunden hat;

b) wegen der Erfahrungen, dass losgetrennte Staaten von interessierter Seite gern rasch in Bündnissysteme gegen den dann ehemaligen »Mutter« -Staat eingegliedert werden;

und c) weil sich der uigurische Separatismus mit der Vorstellung eines Groß-Turkestan verbindet, was zu neuen gewaltigen Kräfteverschiebungen führen würde. Das muss konsequent zu Ende gedacht werden: wenn Wiederentstehung Turkestans – warum dann nicht auch die Kurdistans oder Belutschistans?

Ja, warum eigentlich nicht? Weil drittens die erbitterten Kämpfe um die Beherrschung der Welt, um den Zugriff auf die natürlichen Ressourcen unserer Erde, unter denen der »Krieg gegen den Terror« ein besonders verhängnisvoller ist, einer friedlichen, auf Dauer gestellten Lösung dieser komplizierten Fragen diametral entgegenstehen. Es ist eine tödliche Logik: Weil die USA sich für diesen Krieg der chinesischen Unterstützung versichern wollten, ermutigten sie die chinesische Führung, ihre ohnehin schwierige Auseinandersetzung mit den Uiguren nun ebenfalls unter das Banner des »Krieges gegen den Terror« zu stellen.

Wer hier, wie es etwa der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung und Afghanistankriegs-Befürworter Günter Nooke tut, schnell mit einseitigen Vorwürfen an die chinesische Regierung zur Hand ist, hat die Dimension des Konfliktes nicht verstanden. Ein radikales Umsteuern weg vom Krieg, hin zu einer konsequent friedlichen Konfliktbewältigung – wie sie die UN-Charta seit 1945 fordert – ist nötig. Sonst wird Zentralasien zum Pulverfass.

In China leben rund zehn Millionen Uiguren, mehr als acht Millionen von ihnen im Nordwesten des Landes. Ihr von Peking als »autonome Region« bezeichnetes Siedlungsgebiet nennen sie auch »Ostturkistan« – die muslimische Minderheit gehört zur Familie der Turkvölker und hängt mehrheitlich dem sunnitischen Islam an. In dieser Region Xinjiang, fast fünf Mal so groß wie Deutschland, sind nur etwa 19,6 Millionen Menschen zu Hause. Rund 45 Prozent davon sind Uiguren, über 41 Prozent inzwischen Han-Chinesen – Tendenz steigend. Mit großem Abstand folgen Kasachen (etwa 7 %) und Hui-Chinesen (5 %). Die anderen Volksgruppen wie Kirgisen, Tadschiken und Mongolen kommen auf einen Anteil von kaum einem Prozent.

Die Volksrepublik China ist ein Vielvölkerstaat, in dem es immer wieder zu Unruhen zwischen den ethnischen Minderheiten und der Mehrheit der Han-Chinesen kommt. Diese stellen über 91 Prozent der Bevölkerung. Daneben gibt es 55 offiziell anerkannte Minderheiten. Nach den Zhuang, Mandschu, Hui und Miao bilden die Uiguren die fünftgrößte im Lande. Teile von ihnen streben die staatliche Unabhängigkeit von China an. Vom 7. bis 8. Jahrhundert hatten ihre Vorfahren auf dem Gebiet der heutigen Mongolei ein Großreich errichtet. Mitte des 18. Jahrhunderts schlossen die mandschurischen Herrscher der Qing-Dynastie das Siedlungsgebiet der Uiguren dem Kaiserreich an. Nach zahlreichen Aufständen scheiterten die Uiguren in den 1930er und 1940er Jahren mit ihrem Plan, eine »Republik Uiguristan« zu errichten. Nach Gründung der Volksrepublik China übernahm Peking auch die Macht in der zuletzt von Warlords umkämpften Region.

Seit den 1990er Jahren haben uigurische Aktivisten wiederholt zu Aufständen aufgerufen und Bombenanschläge verübt. Die Zentralregierung macht die Separatisten für rund 300 Attentate mit mehr als 160 Toten verantwortlich. Vier Uiguren-Gruppen wurden zu terroristischen Vereinigungen erklärt. Proteste schlugen die Behörden nieder.

Die Region ist reich an Bodenschätzen wie Kohle, Gold und Uran. Es werden große Vorkommen von Erdöl und Erdgas vermutet. Als Angehörige einer ethnischen Minderheit genießen Uiguren einige Privilegien, etwa bei der Ein-Kind-Politik oder bei der Hochschulaufnahmeprüfung. Die freie Ausübung ihres Glaubens wird jedoch stark eingeschränkt. Amnesty International wirft den chinesischen Behörden Menschenrechtsverletzungen gegen die Minderheit vor.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juli 2009


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