China: Zur falschen Zeit am falschen Ort
Von Peter Stäuber *
Die Schweiz könnte bald uigurische Guantánamo-Häftlinge aufnehmen. In
ihrer Heimat sind die UigurInnen massiven Repressionen ausgesetzt - die
chinesische Regierung fürchtet die Autonomiebewegung in der Provinz
Xinjiang.
Wenn Rebiya Kadeer über die Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat
spricht, lässt sie sich nicht unterbrechen. In der chinesischen Provinz
Xinjiang finde ein kultureller Völkermord statt: «Wir dürfen unsere
Sprache nicht sprechen, wir haben keine Religionsfreiheit, Frauen werden
zur Abtreibung gezwungen, Eltern haben keine Möglichkeit, ihren Kindern
eine Ausbildung zu verschaffen ...»
Kadeer ist Präsidentin des Uigurischen Weltkongresses und hat die
Verfolgung durch die chinesische Regierung am eigenen Leib erfahren:
1999 wurde sie verhaftet und später verurteilt, weil sie angeblich
Staatsgeheimnisse weiterverbreitet habe - sie wollte Abgeordneten des
US-Kongresses Zeitungsausschnitte liefern, die die schwierige
Menschenrechtslage der UigurInnen in ihrer Heimatprovinz verdeutlichten.
Erst nach weltweiten Protesten wurde Kadeer 2005 freigelassen. Seither
lebt sie im Exil in den USA.
Papierene Autonomie
Die UigurInnen, ein muslimisches Turkvolk, sind hauptsächlich in der
Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas angesiedelt. Nachdem die
chinesischen KommunistInnen 1949 das Gebiet besetzten, versprachen sie
den UigurInnen Autonomie. Die existiert jedoch nur auf dem Papier: Seit
Bestehen der Volksrepublik China versucht die Regierung, die uigurischen
Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterbinden.
Denn die Angst vor einer Abspaltung sitzt tief: «Die staatliche Einheit
hatte für die chinesische Regierung schon immer höchste Priorität», sagt
der deutsche Publizist Thomas Weyrauch, der mehrere Bücher zur
Menschenrechtslage in China veröffentlicht hat. Hinzu komme, dass
Xinjiang reich sei an Rohstoffen, vor allem Erdöl und Erdgas. Die Angst
der Regierung vor der Unabhängigkeit der Provinz sei also durchaus
nachvollziehbar, sagt der China-Experte. Mit repressiver Politik
versuche Beijing, die nationale Identität der UigurInnen zu schwächen,
um so das Aufkommen einer starken Autonomiebewegung zu verhindern.
Die Regierung hat stetig darauf hingearbeitet, die Zahl der
Han-ChinesInnen (ethnische ChinesInnen, im Gegensatz zu chinesischen
StaatsbürgerInnen) in Xinjiang zu erhöhen. Die Provinz soll kulturell
vereinnahmt werden. Hunderttausende Han-ChinesInnen sind bereits in die
westliche Provinz umgesiedelt worden, mittlerweile sind die UigurInnen
in der Minderheit. Unter dem Schlagwort der «Entwicklung des Westens»
begann die Regierung 2001, die Infrastruktur der westlichen Provinzen zu
verbessern - Eisenbahnen, Strassen, Industrie- und
Wasserversorgungsanlagen wurden ausgebaut. So machte Xinjiang in
wirtschaftlicher Hinsicht enorme Fortschritte, doch der uigurischen
Bevölkerung kommen diese nur wenig zugute: Um ihre Macht in der Provinz
zu festigen, stelle die Regierung in Beijing sicher, dass der
wirtschaftliche Aufbau von den Han-ChinesInnen getragen werde, sagt
Weyrauch; während die «Entwicklung des Westens» fest in der Hand der
Han-ChinesInnen ist, werden immer mehr UigurInnen arbeitslos und müssen
sich als WanderarbeiterInnen durchschlagen.
2002 habe die Regierung die uigurischen Sprache und Schrift verboten,
sagt Kadeer. Ein weiteres Mittel, die UigurInnen ihrer Identität zu
berauben, sei die religiöse Unterdrückung: Die atheistische Führung
wolle den Menschen verbieten, ihre Religion auszuüben; Jugendlichen sei
es verboten, eine Moschee zu besuchen oder am Religionsunterricht
teilzunehmen.
Das US-amerikanische Aussenministerium bestätigt diese Einschätzung in
seinem jährlichen Menschenrechtsbericht, der Ende Februar veröffentlicht
wurde. Im letzten Jahr habe die Unterdrückung der Religionsausübung in
Xinjiang massiv zugenommen, heisst es. Dabei war es gerade der von den
US-Amerikanern eingeläutete Krieg gegen den Terror, der es der
chinesischen Führung erheblich erleichterte, ihre repressive Politik
durchzusetzen. «Die Regierung benutzt den Krieg gegen den Terror als
Ausrede», sagt Kadeer; «Nach dem 11. September 2001 hat die
Unterdrückung markant zugenommen. Die Regierung behauptet, sie verhafte
islamistische Terroristen, und schickt dann einfach unsere jungen Männer
in die Zwangsarbeit.»
Uiguren in Guantánamo
Der Vorwurf des Terrorismus wurde auch gegen 22 Uiguren erhoben, die
während des Krieges gegen die Taliban in Afghanistan verhaftet wurden.
Jahrelang waren sie in Guantánamo inhaftiert. Bis 2006 waren jedoch alle
Uiguren von der US-amerikanischen Justiz zur Entlassung freigegeben
worden («cleared for release»). Fünf der Gefangenen haben bereits in
Albanien Asyl erhalten, die anderen siebzehn warten darauf, dass ein
Drittstaat sie aufnimmt. Auch die Schweizer Regierung diskutiert eine
Aufnahme ehemaliger uigurischer Guantánamo-Häftlinge: Eine Arbeitsgruppe
unter Federführung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements
prüft, ob die Schweiz Guantánamo-Häftlinge aufnehmen soll.
Rebiya Kadeer ist überzeugt, dass den Gefangenen bei einer Rückkehr nach
China die Todesstrafe droht. China wirft ihnen vor, islamistischen
Terrororganisationen anzugehören. Kadeer hingegen sagt, ihre Landsleute
seien einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Überhaupt habe
die Unabhängigkeitsbewegung der UigurInnen gar nichts mit dem Islam zu
tun; es gehe ihnen lediglich um Selbstverwaltung und Menschenrechte.
Gemäss Weyrauch hat die repressive Politik der Regierung jedoch auch zur
Folge, dass sich immer mehr UigurInnen extremistischen Gruppierungen
anschliessen.
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 23. April 2009
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