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Tiger aus dem Käfig

Chinas Wirtschaft wird von dem "Raubtier" Inflation bedroht. Vor allem steigende Energiepreise bremsen den Boom und zehren am Ersparten der Massen

Von Rainer Rupp *

»Die Inflation ist wie ein Tiger«, warnte Wen Jiabao auf seiner Abschlußrede vor dem Volkskongreß Mitte März. »Wenn man ihn erst einmal rausgelassen hat, ist es sehr schwer, ihn wieder in den Käfig zu sperren«, so Chinas Ministerpräsident. Jetzt, zwei Monate später, streift die große Raubkatze weitgehend unbehelligt durch die chinesische Preislandschaft und jagt den Einwohnern des Reiches der Mitte gehörige Schrecken ein.

Die einfachen Menschen haben angesichts rasanter Teuerung für Lebensmittel (zehn Prozent und mehr) Angst, daß ihr Haushaltsgeld nicht mehr reicht und ihre mühsam erarbeiteten Ersparnisse von der nimmersatten Bestie aufgefressen werden. Die Staatsführung macht sich Sorgen um den sozialen Frieden. In Peking weiß man, wie schnell sich der bescheidene Wohlstand der Massen durch drastische Geldentwertung verflüchtigen kann. Auch in Washington und in den europäischen Hauptstädten herrscht Verdruß über das freilaufende Raubtier in der Volksrepublik, befürchtet man doch zu Recht, daß die chinesische Führung hart auf die Wachstumsbremse treten wird.

Globale Wirkung

In der Zeit nach der jüngsten Wirtschaftskrise hat insbesondere in den exportstarken, westlichen Industrienationen wie Deutschland die immense Nachfrage aus China und anderen Schwellenländern dazu beigetragen, wieder aus der wirtschaftlichen Talsohle zu kommen. Nun wird befürchtet, daß Peking zur Abkühlung der inflationären Überhitzung die Produktion drosseln könnte, was zu einer Kettenreaktion in anderen Ländern führen würde. Zuerst gingen die Rohstoffexporte aus Afrika, Australien und Lateinamerika zurück. Das ließe in diesen Regionen die Einnahmen sinken, und die Länder würden weniger Erzeugnisse im westlichen Ausland bestellen. Der Verfall der industriellen Rohstoffpreise auf den globalen Märkten in den zurückliegenden Wochen scheint diese Entwicklung zu bestätigen.

Damit schwächt sich das chinesische Wachstum ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ab, wo in den USA der Effekt der massiven Konjunkturspritzen der vergangen drei Jahre versandet und zugleich in Europa die Unsicherheiten über die Zukunft der Gemeinschaftswährung zunehmen. Beides wirkt sich auch hierzulande dämpfend auf die konjunkturellen Erwartungen aus. Auf Grund der engen Vernetzung der (unkontrollierten) globalen Märkte drohen nun diese negativen Tendenzen in Europa, in den USA, in Asien und auf den anderen Kontinenten sich gegenseitig zu verstärken.

Zeitgleich mit der wachsenden Inflation, die im April auf Jahresbasis 5,6 Prozent erreichte, sieht sich China mit einer gigantischen und wachsenden Energiekrise konfrontiert. Das stellt Peking vor die schwierige Entscheidung, in den kommenden Monaten entweder im ganzen Land immer wieder Blackouts in der Elektrizitätsversorgung hinzunehmen oder durch Preiserhöhungen für Kohle die Inflation zu beschleunigen. Ein Problem ist auch, daß China seit Anfang des Jahres unter einer ungewöhnlich schweren Trockenperiode leidet. Diese stellt nicht nur die diesjährige Reis- und Getreideernte in Frage – was der Teuerung noch einen weiteren Schub geben würde. Ungewöhnlich früh in diesem Jahr ist auch die Wasserzufuhr zu den großen hydroelektrischen Kraftwerken auf das kritische Minimum abgesackt. Diese erzeugen in normalen Jahren etwa 20 Prozent des benötigten Stroms des Landes, der weitaus größte Teil kommt jedoch aus Kohlenkraftwerken. Entsprechend ist die Nachfrage nach dem fossilen Brennstoff gestiegen.

In der Kostenfalle

Die Energiekrise hat aber neben der natürlichen Ursache des Wassermangels auch noch einen von der Führung in Peking zu verantwortenden Grund. Zwar hat China – anders als während der letzten Energiekrise 2004/2005 – ausreichende Kapazitäten zur Stromerzeugung. Aber die Politik hat billige Tarife für die Elektroenergie festgesetzt, während die Kosten für den Rohstoff Kohle dramatisch steigen. Das konterkariert die Absicht, denn die Regierung diktiert die niedrigen Strompreise vor allem deshalb, damit die chinesische Industrie kostengünstig produzieren und exportieren kann.

Allerdings sind die fünf großen staatlichen Elektrizitätswerke gehalten, gewinnorientiert zu operieren. Durch die steigenden Kohlepreise ist es somit zu einem inneren Widerspruch gekommen, und das System hat sich selbst ausgebremst: Die Kohlekraftwerke haben wegen der höheren Rohstoffpreise immer größere Verlust gemacht, die sich derzeit auf umgerechnet 1,5 Milliarden Dollar summieren. Gleichzeitig haben sie trotz höherer Stromnachfrage keine zusätzliche Tonne Kohle eingekauft. Dies ist der eigentliche Grund für den schlimmsten Elektrizitätsengpaß seit sechs Jahren, der vom staatlichen Netzbetreiber State Grid Corporation of China für die Spitzenzeit im Sommer auf 30 bis 40 Gigawatt prognostiziert wird.

Am Dienstag (31. Mai) meldeten die Agenturen, daß die politische Führung in Peking den Stromerzeugern nun erlaubt hat, ihre Preise um drei Prozent zu erhöhen. Dies gilt allerdings nur für industrielle Verbraucher und nicht für Privathaushalte, die ohnehin bereits von der Inflation gebeutelt sind. Dennoch erwarten Experten, daß durch diese Maßnahme, wenn auch zeitverzögert, die Inflationsrate um weitere 0,5 Prozent in die Höhe getrieben wird. Andererseits besteht die Befürchtung, daß die Kohlengruben angesichts der nun wieder stärkeren Nachfrage der Preisspirale eine weitere Drehung verpassen. Der Tigerkäfig jedenfalls ist weiter verwaist.

* Aus: junge Welt, 1. Juni 2011


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