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"Tibetische Kultur ist weit mehr als der Buddhismus"

Weil Mönche hohes Ansehen genießen, heißt das nicht, daß alle mit dem Dalai Lama auf einer Linie sind. Ein Gespräch mit Ingo Nentwig *

Ingo Nentwig ist freischaffender Sinologe und Ethnologe und forscht unter anderem zu den Minderheiten der Volksrepublik China sowie zur chinesischen Nationalitätenpolitik.



Sie kennen Tibet aus eigener Anschauung. Betreibt die chinesische Staatsmacht »kulturellen Völkermord« an den Tibetern, wie der Dalai Lama behauptet?

Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Die tibetische Kultur ist weit mehr als nur der tibetische Buddhismus. Tatsächlich blüht und gedeiht die tibetische Kultur in China in sehr vielen Bereichen.

Woran machen Sie das fest?

Tibetisch ist eine der anerkannten Staatssprachen in China, sie wird an Schulen unterrichtet. Unmengen an Büchern, Zeitungen und Zeitschriften werden landesweit in tibetischer Sprache publiziert, selbst von Peking aus. Tibetischer Rundfunk und Fernsehen werden mit enormen öffentlichen Mitteln gefördert. Spezielle Kommissionen wachen sogar darüber, daß Straßenschilder in den tibetischen Regionen immer zweisprachig gestaltet sind. Es wird intensiv Erzählforschung betrieben, es gibt Akademien für traditionelle tibetische Medizin, tibetische Kultstätten werden von Staats wegen unterhalten, natürlich auch Tempel und Klöster. All das zeigt: Die tibetische Kultur ist alles andere als vom Aussterben bedroht. Ich habe kurdische Freunde aus der Türkei, die meinen, der Kurdistan-Konflikt wäre längst gelöst, würden ihnen die kulturellen Rechte und Freiheiten der Tibeter zuteil.

Wie steht es um die Religion?

Die normale Religionsausübung wird mit wenigen Abstrichen nahezu nicht eingeschränkt. Fakt ist, daß die chinesische Regierung sensibel auf die Zurschaustellung von Dalai-Lama-Bildnissen reagiert. Aber obwohl diese offiziell als verboten gelten, kann man sie in manchen tibetischen Siedlungsgebieten im Laden erwerben. Auch die Forderung der tibetischen Geistlichen, die Klöster schon für Kinder mit fünf Jahren zu öffnen, weist die Regierung zurück. Statt dessen dürfen Jugendliche erst mit 16 Jahren ins Kloster gehen, weil sie erst in diesem Alter reif sind, eine freie Entscheidung zu treffen. Das entspricht allerdings durchaus einem westlichen Fortschrittsverständnis.

Aber wie sieht es aus, wenn sich Religion und Politik vermischen?

Wenn einige hohe religiöse Funktionsträger meinen, Politik machen zu müssen, indem sie Unabhängigkeitsbestrebungen befördern und unterstützen, dann zieht das in der Tat staatliche Repressionen in Art und Ausmaß nach sich, die zum Teil eindeutig gegen die politischen Menschenrechte verstoßen.

In welcher Form?

Wer mit der Tibet-Fahne demonstriert und Forderungen nach Unabhängigkeit skandiert, riskiert, festgenommen und inhaftiert zu werden. Das ist unbestreitbar.

Trifft das vorherrschende Bild in den Medien von einer weitgehenden Identität von tibetischen Mönchen und tibetischem Volk zu?

Fraglos genießen Mönche ein hohes Ansehen, und die Religiosität der Tibeter ist sehr ausgeprägt, wobei dies von der chinesischen Regierung stark unterschätzt wird. Das heißt aber nicht, daß die einfache Bevölkerung politisch mit der Geistlichkeit auf einer Linie ist, schon gar nicht in der Frage der Unabhängigkeit. Dazu muß man wissen, daß es selbst innerhalb der religiösen Eliten eine Vielzahl von Vertretern gibt, die China fest die Treue halten.

Demnach besteht also kein einheitliches politisches Bewußtsein der Tibeter?

Ich habe im Rahmen meiner Feldstudien mit Hunderten Tibetern gesprochen, darunter auch mit etlichen Mönchen. Deren Haltungen und Meinungen in puncto Politik sind so heterogen, wie sie nur sein können. Die einen mögen die Chinesen nicht, wenden sich aber dennoch gegen eine Unabhängigkeit. Andere kommen außerordentlich gut mit den Chinesen zurecht, wieder andere wollen sich von China lossagen. Das Bild von den guten Tibetern und den bösen Chinesen ist plumpe Schwarzweißmalerei.

Läßt sich das Kräfteverhältnis pro und wider China beziffern?

Empirisch nicht. Nach meinem Gefühl besteht aber gerade bei der einfachen Landbevölkerung, die den Großteil des tibetischen Volkes stellt, eine große Mehrheit für den Verbleib Tibets im chinesischen Staatsgebiet. Entsprechend gut ist dort auch das Verhältnis mit den Han-Chinesen. Auf antichinesische Einstellungen stößt man vornehmlich bei den Eliten.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, 25. April 2008

Wie bei allen Artikeln und Kommentaren zum Tibet-Thema verweisen wir auf unsere Vorbemerkung "Prüfen - nicht spekulieren" auf dieser Seite.


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