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Besetzt oder befreit?

Die Minderheitenpolitik der Volksrepublik China in Tibet

Von Nora Bartels *

Lange schon ist Tibet ein Liebling der Mainstreammedien, und das nicht zufällig: Es steht für ein sagenumwobenes, heiliges Land mit einer für den Zeitgeist des sich seiner selbst überdrüssig gewordenen Abendlandes attraktiven Religion, für die Greueltaten des Lieblingsfeinds China und schließlich für den Dalai Lama, der die Herzensgüte selbst zu sein scheint, immer lächelnd und guter Dinge. Doch seit dem 14. März, als die Berichte von den Aufständen in Lhasa uns erreichten, überschlagen sich Zeitungen und Fernsehen geradezu mit der Berichterstattung; kaum eine Meldung, ein Kommentar oder ein Bericht, in dem nicht Kritik an der Verletzung der Menschenrechte, der Auslöschung der tibetischen Kultur und natürlich der unrechtmäßigen Besetzung des Landes thematisiert wird. Die Lage scheint klar, und jeder Journalist hat dazu eine ebenso klare Meinung, die nun Tag für Tag erneut niedergeschrieben wird. – Der offensichtliche Mangel an konkreten Informationen hindert nicht am ständigen Wiederholen. Differenzen gibt es allein in der Frage, wie man sich China gegenüber zu verhalten habe. Doch das Bild, das hierzulande von China verbreitet wird, entspricht nicht der Realität.

Minderheitenstaat China

China hat, neben der Han-Nationalität, zu der über 90 Prozent der Bevölkerung gehören, 55 anerkannte Minderheiten. Davon leben etwa 70 Prozent in sogenannten autonomen Gebieten, wie auch Tibet eines ist. Zusammengenommen machen diese Gebiete 64 Prozent der Gesamtfläche Chinas aus. Schon seit 1949 betont die Kommunistische Partei immer wieder die Wichtigkeit einer fördernden Minderheitenpolitik, was sich nicht nur in Worten, sondern auch in zahlreichen Sonderbestimmungen und Aufbaumaßnahmen äußert.

Die Parlamente der autonomen Gebiete verfügen über eine gewisse gesetzgebende und exekutive Gewalt. Außerdem sind verschiedene Rechte gesetzlich garantiert, um den Gebieten Unabhängigkeit zu gewähren: das Recht auf selbständige Entwicklung der Wirtschaft, auf Finanzverwaltung, auf Bildung von Sicherheitstruppen, auf Ausbildung von Funktionären, auf Anwendung von Schrift und Sprache der eigenen Nationalitäten sowie auf eine unabhängige Entwicklung der Wissenschaft, Technik, Kultur und des Bildungswesens. Alle diese Rechte und Möglichkeiten zur Entscheidung stehen auf der Basis des chinesischen Rechtssystems; Anpassungen an die speziellen Bedingungen einer Region bzw. flexiblere Anwendungen des chinesischen Rechtes müssen vom Ständigen Ausschuß des Nationalen Volkskongresses genehmigt werden. Eine der bekannteren Regelungen für Minderheiten ist beispielsweise die Ausnahme von der Geburtenkontrolle: Statt der die Han-Bevölkerung betreffenden Ein-Kind-Politik ist es Familien, die Minderheiten angehören, gestattet, zwei oder mehr Kinder zu bekommen.

Um die Kultur der Minderheiten zu erhalten und zu erforschen, aber auch, um Angehörigen von Minderheiten bessere Bildungschancen zu verschaffen, wurden seit Gründung der Volksrepublik China zahlreiche Forschungseinrichtungen und Universitäten aufgebaut. Minderheitensprachen und -schriften wurden erforscht, dokumentiert und sind in den betreffenden autonomen Gebieten neben Chinesisch Amts- und Schulsprache. Für bessere Chancen in der höheren Bildung sorgt eine Quotenregelung an großen Universitäten. Die Punktzahlen, die für die Aufnahme an diesen Bildungseinrichtungen notwendig sind, sind bei Angehörigen von Minderheiten niedriger als bei Han-Chinesen. Damit denen, deren Muttersprache nicht Hochchinesisch ist, keine Nachteile bei der Eingangsprüfung entstehen, werden Angehörigen von Minderheiten Prüfungsbögen in ihrer Sprache angeboten; zudem haben sie die Chance, kleine Stipendien für die Studienzeit zu bekommen.

All diese vom Staat gelenkten Förderungen führen allerdings nicht automatisch zu einer aufgeschlossenen chinesischen Gesellschaft, genausowenig wie eine rechtliche Gleichstellung der Frau nicht automatisch ihre Emanzipation mit sich bringt. Vorurteile anderen Bevölkerungsgruppen und Nationen gegenüber, seien sie auf- oder abwertender Natur, gibt es auch in China, und nicht selten stehen Han-Chinesen den Minderheiten mit einer mitleidigen oder auch arroganten Haltung gegenüber. Diese ist aber nicht allein auf Minderheitengruppen bezogen, sondern ebenso auf die Landbevölkerung, Menschen anderer Hautfarbe usf. Festzuhalten ist dennoch, daß diese Einstellungen nicht einer diskriminierenden Politik entspringen.

Die progressive Minderheitenpolitik Chinas wurde aufgrund der eindeutigen Faktenlage gelegentlich sogar in der deutschen Presse lobend erwähnt – schließlich war man damit in China sehr früh schon ein ganzes Stück weiter als in europäischen Ländern. Gleichzeitig wird aber oft kritisiert, wie Minderheiten der chinesischen Öffentlichkeit präsentiert werden: als »Zootiere« in Parks, in denen sie für Touristen singen und tanzen.

Tatsächlich können westlichen Besuchern »Minderheitenparks« in Peking oder ähnliche Einrichtungen in China auf den ersten Blick befremdlich erscheinen: Die Darstellung der Lebensweise ist oft vereinfacht und idealisiert. In nachgebauten Landschaften und Häusern warten die Mitarbeiter bei jedem Wetter in bunten Kostümen auf die nächste Gruppe Touristen, um für sie zu tanzen und zu singen. Sie beziehen ihre Gäste in traditionelle Spiele mit ein, reichen ihnen typische Getränke ihrer Region und lassen sie zum Beispiel an einer »Hochzeitszeremonie« teilnehmen – all das gleicht eher unseren Vorstellungen von einem Vergnügungspark als einem Museum. Sicher könnte man all das seriöser gestalten – mehr Informationen und weniger Show wären wohl ein Schritt in die richtige Richtung. Statt sich aber dem Gefühl der Befremdung hinzugeben, könnte man sich auch überlegen, was die chinesische Regierung damit beabsichtigt: Die kulturelle Vielfalt Chinas wird mit Stolz und als erhaltenswert präsentiert, das friedliche Zusammenleben in einem geeinten Staat ist ein angestrebtes Ideal, dem man auf solche Art und Weise versucht, näher zu kommen.

Sklaven haltende Feudalgesellschaft

Nun scheint es, als strebten nicht alle Minderheiten dieses Ideal gleichermaßen an. In den Medien erfährt man, daß beispielsweise die Bevölkerung Tibets unglücklich über ihre Zugehörigkeit zu China sei. Man liest vom Einmarsch der kommunistischen Truppen zwischen April 1949 und Oktober 1951 als einer gewalttätigen Besetzung, in der offiziellen Geschichtsschreibung der Volksrepublik China spricht man hingegen von einer Befreiung. Welche der Bezeichnungen besser paßt, läßt sich am leichtesten entscheiden, wenn man die Situationen vor und nach den fünfziger Jahren vergleicht.

Das friedfertige Image, das der Buddhismus im Westen hat, macht es bisweilen schwer, die Zustände in Tibet vor 1951 zu begreifen. Tatsächlich handelte es sich nicht um ein friedliches Zusammenleben, sondern um ein keinesfalls gewaltfreies theokratisches Herrschaftssystem. Den tibetischen Gesetzen zufolge war das etwa 1,2 bis zwei Millionen Menschen umfassende Volk in neun Schichten unterteilt; praktisch bedeutete das neben der kleinen Elite Geistlicher, Adeliger und Verwalter eine Mittelschicht von nur etwa 10000 Menschen. Die überwiegende Mehrheit der Tibeter litt unter Armut und Hunger, Tausende waren Bettler, die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung bildeten Leibeigene.

Erdrückende Steuern machten arme Menschen zu Schuldnern der Klöster, die mit hohen Zinsen Geld verliehen. Wenn die Rückzahlung nicht möglich war, zwang das die Familie nicht selten dazu, ihre Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, was für sie nicht nur ein Leben ohne Besitz, sondern auch bar jeglicher Absicherung oder Pflege bedeutete. Der überwiegende Teil der landwirtschaftlich kultivierten Fläche Tibets gehörte den Klöstern und wurde von Leibeigenen bearbeitet. Zugang zu Bildung wurde dem Volk verwehrt, allein in den Klöstern wurde Schrifterziehung gepflegt und weitergegeben, so daß über 90 Prozent der Bevölkerung Analphabeten waren. Männliche Jugendliche und Kinder wurden ihren Familien entzogen, zu Hausdienern gemacht, als Soldaten eingesetzt oder zu Mönchen erzogen; auch sexuelle Mißhandlungen waren keine Ausnahme. Frauen wurden als minderwertige Lebewesen angesehen und schon in jungen Jahren von buddhistischen Mönchen mißbraucht. Als Strafen für Widerstand oder Diebstahl waren Maßnahmen wie Augenausstechen, Zungeabschneiden, Amputation, Lähmen durch Zerschneiden der Kniesehne und andere Foltermethoden per Gesetz legitimiert und auch praktiziert, wie frühe Tibetbesucher gesehen und dokumentiert haben.

Die Klosterherrschaft und extreme Ungleichverteilung von Besitz legitimierte sich gerade durch die Karmalehre der Religion, die das je gegenwärtige Leben als das Resultat der guten bzw. schlechten Lebensweise im vorherigen Leben erklärt. Arme waren demnach aufgrund ihres Lebenswandels im vorangegangenen Leben selbst schuld an ihrer Misere, Reiche genossen die Früchte ihres früheren Lebens.

Zerstörungen der Kulturrevolution

Diese Situation änderte sich erst nach dem 23.Mai 1951 mit dem Einmarsch der kommunistischen Truppen sowie der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der chinesischen Regierung und dem Dalai Lama, der eine scheinbare Selbstverwaltung Tibets mit ihm als Oberhaupt unter chinesischer militärischer Kontrolle vorsah.

Die Frage, ob Tibet davor ein unabhängiges Land war, ist ein neuerdings wieder vieldiskutierter Punkt. Feststeht, daß Tibet zu keinem Zeitpunkt der Geschichte von irgendeinem Land der Welt als eigenständig anerkannt worden war. Zwar rief 1913 der damalige Dalai Lama nach dem Sturz des letzten chinesischen Kaisers, Pu Yi, die Unabhängigkeit Tibets aus, diese Ausrufung wurde aber weder von China noch von anderen Ländern anerkannt. Selbst die UNO tritt nicht für den eigenständigen Status Tibets ein. Doch wenn man sich auch nicht offiziell traut, Tibets Zugehörigkeit zu China grundsätzlich in Frage zu stellen, so werden der Volksrepublik wegen ihrer Tibetpolitik doch allerlei abenteuerliche Vorwürfe gemacht: die Zerstörung der tibetischen Kultur, die »Überfremdung« durch die massiv betriebene Zuwanderung von Han-Chinesen in Tibet, die Verhinderung der Religionsausübung, ja sogar Völkermord an den Tibetern.

In der Tat ist die Geschichte Tibets nach dem gescheiterten Putschversuch und der Flucht des Dalai Lama 1959 ein Auf und Ab. Die Kulturrevolution (1966–1976) wütete auch in Tibet, und unersetzliche Kulturgüter und zahlreiche Tempelanlagen wurden während dieser Zeit, mit Hilfe tibetischer Roter Garden, zerstört. Das ist jedoch kein tibetspezifisches Problem: Die Kulturrevolution hat in ganz China großen Schaden angerichtet und auch die Han-Chinesen selbst, ganz abgesehen von den menschlichen Verlusten, vieler kultureller Schätze beraubt.

Vor und nach dieser unbestreitbar zerstörerischen Zeit hat man sich trotz knapper Ressourcen um Tibets Aufbau gekümmert, ja der Region sogar mehr Aufmerksamkeit als anderen autonomen Gebieten geschenkt. In dem 1951 mit dem Dalai Lama abgeschlossenen Vertrag verpflichtete sich China zur Aufbauarbeit, die vor allem die Senkung der Zinsen, den Bau von Krankenhäusern und Straßen betraf. Das Bildungsmonopol der Klöster wurde 1952 durch die Schaffung weltlicher Schulen gebrochen, in Tibet wurden Trinkwasserleitungen gelegt, die Elektrifizierung begann, Sklaverei und unbezahlte Arbeit wurden abgeschafft, die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Bettler ging stark zurück. Nach dem gescheiterten Aufstand in den Jahren 1956 und 1957, der von vormals privilegierten Priestern und deren Angehörigen initiiert wurde, setzte die Regierung die Enteignung der Religionsführer durch, und bis 1961 wurde die landwirtschaftliche nutzbare Fläche an vormals Landlose vergeben und ihre Bewirtschaftung kommunal organisiert.

Der Aufbau und, im Fall der durch die Kulturrevolution zerstörten Einrichtungen, Wiederaufbau wurde in den späten 70er Jahren intensiviert. 1980 wurden Reformen für mehr Selbstbestimmung in Tibet eingeleitet, die unter anderem mehr Entscheidungsfreiheit in der Landwirtschaft garantierten, was zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität führte. Die Grenzbestimmungen wurden gelockert, so daß einige Tibeter ihre Verwandten in Indien oder Nepal treffen konnten. Viele Lama kehrten in dieser Zeit in die Klöster zurück, wo sie seither mit einer geringen finanziellen Unterstützung von staatlicher Seite und unter einer gewissen staatlichen Kontrolle ihren religiösen Tätigkeiten nachgehen können.

Tibet heute

Auch heute wird viel Geld und Arbeit in Tibet investiert. Das Telefonnetz wird stetig ausgebaut, das Straßennetz erweitert, Tempel und Klöster restauriert; die Restauration des Potala-Palasts, des ehemaligen Sitzes des Dalai Lama, war von allen Instandsetzungen, die China unternahm, die kostenaufwendigste überhaupt. Über 50 Institute für Tibetforschung wurden im ganzen Land eingerichtet, traditionelle tibetische Erzählungen und geistliche Werke wurden dokumentiert und übersetzt, über 1300 medizinische Einrichtungen wurden aufgebaut. Und nicht zuletzt ist die tibetische Einwohnerschaft seit Jahrzehnten von der Steuerpflicht befreit, um einen Wirtschaftsaufschwung zu fördern. Der prozentuale Anteil der Kinder, denen der Schulbesuch vom Staat bezahlt wird, ist bei den Tibetern am größten. Neben diesen wirtschaftlichen und strukturellen Fördermaßnahmen gibt es auch eine Anzahl Sonderregelungen für die Tibetregion. Beispielsweise müssen Angestellte in Tibet aufgrund der geographischen Bedingungen nur 35 Stunden in der Woche und damit fünf Stunden weniger als die Bevölkerung im übrigen China arbeiten.

Für den Erhalt der tibetischen Sprache sorgt die Festlegung von Tibetisch als Hauptverkehrssprache. Um in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China Karriere zu machen, ist es natürlich unabdingbar, auch gutes Chinesisch zu sprechen, so daß der Chinesischunterricht gefördert wird. In den Schulen wird sowohl Tibetisch als auch Chinesisch unterrichtet. Offizielle Dokumente werden in beiden Sprachen abgefaßt, juristische Verhandlungen mit tibetischen Beteiligten in Tibetisch abgehalten, Rundfunk und Fernsehen senden sowohl in Tibetisch als auch in Chinesisch. Straßenschilder und Schilder von öffentlichen Gebäuden und Anlagen müssen zweisprachig beschriftet sein.

Im Ergebnis all dieser Bemühungen ist die durchschnittliche Lebenserwartung von 35,5 Jahre (1959) auf 67 Jahre (2005) gestiegen; die Kindersterblichkeit sank im gleichen Zeitraum von 43 auf 3,1 Prozent. Tibets Wirtschaftswachstum liegt heute bei 12,5 Prozent. Dabei handelt es sich zwar um das höchste Wirtschaftswachstum innerhalb Chinas, doch ist auch zu bedenken, daß Tibet in seiner Entwicklung noch weit hinter anderen Gebieten Chinas zurückliegt. Trotz erheblicher Erfolge in der Bekämpfung des Analphabetismus muß das Bildungswesen nocht deutlich ausgebaut werden. Weitreichende Teile Tibets sind infrastrukturell unzureichend ausgestattet, und gerade Tibeter aus entlegenen Gebieten haben auch heute noch wenig Anteil am Aufschwung. Die weitentwickelten Städte stehen, wie überall in China, den unterentwickelten Landgebieten gegenüber.

Hysterie des Dalai Lama

Doch auch dann, wenn der gestiegene Wohlstand anerkannt wird, wird in westlichen Publikationen behauptet, der Preis, den die Tibeter dafür zu zahlen hätten, sei die Ausradierung ihres Volkes durch die massive Zuwanderungspolitk. Der »Überfremdungs«vorwurf, vom Dalai Lama sogar als »kultureller Genozid« bezeichnet, ist bei genauerer Betrachtung jedoch unhaltbar. Durch den ständigen Zu- und Abzug von Wanderarbeitern ist der exakte Anteil von Han-Chinesen auf tibetischem Gebiet nur sehr schwer festzustellen; ohne sie und ohne stationierte Soldaten geht man von sechs Prozent festen Siedlern aus. Soldaten und Wanderarbeiter eingerechnet, sind es vermutlich doppelt so viele. Durch den Wirtschaftsaufschwung, aber auch durch die Regelung, daß Ehen in Tibet zwei Jahre früher als im Rest des Landes geschlossen werden können und dadurch, daß die Ein-Kind-Regelung in Tibet keine Gültigkeit besitzt, hat sich die tibetische Bevölkerung in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt. Auch in der Verwaltung der Autonomen Region Tibet sind 70 Prozent der staatlichen Führungskräfte nicht Han-chinesischer Herkunft, sondern Angehörige von Minderheiten, vorwiegend Tibeter; das gleiche gilt für die Polizei. Eine staatlich geförderte Ansiedlung von Han-Chinesen auf tibetischem Gebiet existiert nicht.

Richtig ist hingegen, daß die Han-chinesische Bevölkerung sich seit den 90er Jahren besonders in Städten wie Lhasa ansiedelt, wo es auch Händler und Wanderarbeiter bevorzugt hinzieht, und dadurch dort ein hoher Bevölkerungsanteil Han-chinesisch ist. Spannungen sind unter solchen Umständen sicher nicht ungewöhnlich. Doch genau gegen diesen Teil der Bewohner, gegen die zivile Han-chinesische Bevölkerung, richtete sich die Aggression am 14. März 2008. Wohlgemerkt wurden also nicht vornehmlich staatliche Institutionen, sondern privat geführte Geschäfte angegriffen mit der Begründung, daß man sich benachteiligt und »überfremdet« fühle. »Überfremdung« ist jedoch, wie die meisten Deutschen wenigstens für ihr eigenes Land begreifen, kein Argument für tätliche Übergriffe.

Obwohl die meisten Tibeter den höheren Lebensstandard schätzen und sich mit der Zugehörigkeit zu China angefreundet haben, bedeutet das nicht unbedingt, daß die Tibetpolitik der VR China in der Selbstwahrnehmung ausschließlich positiv gesehen wird. Viele Tibeter sind sehr religiös und wünschen sich die Rückkehr des Dalai Lama und weniger Kontrolle des Staates über die Klöster. Der Eindruck der Unterdrückung und Verzweiflung, der von der sogenannten Exilregierung um den Dalai Lama herum erweckt und mit dem der gewaltsame Aufstand gerechtfertigt wird, ist nicht der der tibetischen Bevölkerung.

Leider sind es aber genau die geradezu hysterischen Aussagen der Exilregierung und einiger Tibeter im Ausland, denen in den Mainstreammedien Gehör geschenkt wird – chinesische Quellen und Statistiken werden von vornherein disqualifiziert, Geschichtsbücher vorsichtshalber gar nicht erst aufgeschlagen. Es scheint auch kein Interesse daran zu bestehen, Sinologen oder Tibetologen die Möglichkeit zu einer differenzierten Darstellung der Zusammenhänge und Widersprüche in der Beziehung China–Tibet zu gewähren und damit einen tieferen Einblick in die chinesische Politik und Gedankenwelt zu gewähren.

* Nora Bartels ist Sinologin und Japanologin. Sie lebt zur Zeit in Peking.

Aus: junge Welt, 17. Mai 2008


Wie bei allen Artikeln und Kommentaren zum Tibet-Thema verweisen wir auf unsere Vorbemerkung "Prüfen - nicht spekulieren" auf dieser Seite.


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