"Neuer Sozialismus" für Chinas Dörfer
Peking will Produktion und Lebensverhältnisse auf dem Land durchgreifend modernisieren
Von Anna Guhl, Peking *
Jahrelang hat sich die chinesische Führung fast ausschließlich mit dem Aufbau der Industrie
beschäftigt. Das hat sich inzwischen geändert. Trotzdem stagniert die Entwicklung auf dem Land.
In den Ausbau des industriellen Sektors war in der Vergangenheit nicht nur fast das gesamte Geld
des Landes gesteckt worden, auch die Investitionen aus dem Ausland flossen in diesen Bereich.
Chinas Wirtschaft in den Küstenregionen boomte, aus einst kleinen Gemeinden entstanden
blühende Städte mit Hochhäusern und modernen Ladenzeilen. Doch auf dem Land blieb nahezu
alles unverändert.
Dabei hatten die Reformen Mitte der 70er Jahre gerade in den Dörfern ihren Anfang genommen. So
waren das Nutzungsrecht für das Ackerland von den Kommunen und Genossenschaften wieder an
die Familien übergeben und der freie Verkauf von Gemüse und Obst erlaubt worden. Doch
»Modernisierung und Öffnung« der chinesischen Gesellschaft fanden fast ausschließlich in den
Städten statt. Auf dem Land lebten die Menschen weiter wie seit Tausenden von Jahren, oft in
Armut und jenseits jeglichen Fortschritts.
Dass viele junge Leute in die Städte abwanderten und selbst vor dem Verkauf ihres eigenen Blutes
für wenig Geld nicht zurückschreckten, dass wertvolles Ackerland immer öfter eingezogen wurde,
um darauf Vergnügungsparks und Luxusvillen zu errichten, ließ die chinesische Führung vor drei
Jahren aufwachen. Die Getreideproduktion war bedrohlich zurückgegangen, durch die Abwanderung
der Bauern verschärfte sich die Beschäftigungslage, die veralteten Produktionsstrukturen auf dem
Land wollten einfach nicht zu Chinas »Erfolgsstory« passen. Nach gut 17 Jahren Unterbrechung
wurde Anfang 2004 wieder ein »Nr. 1-Dokument« der Parteiführung veröffentlicht. Die sofortige
Anhebung der Einkommen der Bauern wurde zur erstrangigen Aufgabe erklärt. Dahinter stand der
Gedanke, dass mehr Geld die Bauern auf dem Lande halten würde.
Doch so einfach ließen sich die Probleme offenbar nicht lösen. Anfang Februar erschien bereits das
vierte sogenannte Nr. 1-Dokument in Folge, und wieder ging es ausschließlich um die Entwicklung
auf dem Lande. Denn, und das musste nun auch Peking eingestehen, keine der politischen
Maßnahmen in den letzten Jahren hatte eine grundlegende Wende bewirkt. Im Gegenteil, der Unmut
unter den gut 900 Millionen Menschen, die auf dem Land leben, wächst. Immer häufiger kommt es
zu Protesten und Ausschreitungen.
Als Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao vor drei Jahren auf der Jahrestagung des Nationalen
Volkskongresses, des chinesischen Parlaments, die Abschaffung von Agrarsteuern und Abgaben
verkündete, kam das einer kleinen Revolution gleich. Seit jeher litten Chinas Bauern vor allem unter
der Last der zahlreichen und kaum zu durchschauenden Steuern und Abgaben, die sowohl vom
Staat als auch von den lokalen Behörden erhoben wurden. Doch auch diesmal blieben den Bauern
am Ende umgerechnet ganze 13 Euro mehr pro Jahr.
Über 70 Prozent aller staatlichen Zuwendungen wollte die Zentralregierung in Peking für die
Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Lande bereitstellen. Sicher, die
Einkommen konnten angehoben werden, im letzten Jahr sogar um fast 10 Prozent. Doch in den
Städten verdient man durchschnittlich mehr als dreimal soviel. Und dort wachsen die Einkommen
kontinuierlich Jahr für Jahr um mehr als 12 Prozent. Soziale Leistungen – sowohl Kranken- als auch
Rentenversicherung – werden in den Städten schrittweise ausgebaut, auf dem Lande dagegen lebt
die Mehrheit der Bevölkerung bisher ohne jegliche Absicherung.
Auch im jüngsten Papier der chinesischen Führung wird den Bauern wieder viel versprochen.
Umfassend und grundlegend sollen nun die Produktion und das Leben auf dem Dorf modernisiert
werden. »Neue sozialistische Dörfer« heißt das aktuelle Schlagwort aus Peking. Doch die Zweifel
sind weiter groß und wohl auch berechtigt. Es fehlen Rechtssicherheit und Transparenz. Den
Bauern wird allzu oft Land einfach weggenommen. Ohne ausreichende Abfindungen werden sie
buchstäblich in den Ruin getrieben. Beschwerden bei den örtlichen Behörden sind in der Regel
zwecklos. Staatliche Zuschüsse fließen nicht selten in Prestige- und Protzbauten, für dringend
benötigte soziale Einrichtungen wie Schulen und Krankenstationen fehlt dagegen das Geld.
Schmutzig, grau und hässlich präsentieren sich auch heute noch die meisten chinesischen Dörfer.
Selbst wenige Kilometer von der Weltstadt Peking entfernt verfügen sie weder über ein
funktionierendes Abwassersystem noch über eine effektive Abfallbeseitigung. Viele Chinesen auf
dem Lande schätzen sich schon glücklich, wenn ihr Dorf wenigstens an einer befestigten Straße
liegt.
* Aus: Neues Deutschland, 19. Februar 2007
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