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Mythen um und in Tibet

Wem nützt die Kampagne gegen die Olympischen Spiele in Peking?

Von Dorit Lehrack *

Oktober 2007 in Dharamsala, Sitz der tibetischen Exilregierung in Nordindien: Auf dem kleinen Markt des Ortsteils McLeod Ganj -- hier residiert auch der Dalai Lama -- sammeln Vertreter des Tibetischen Jugendkongresses Unterschriften und Geld für ein freies Tibet und für den Boykott der Olympischen Spiele in Peking. Über dem Markt wehen Banner mit Handschellen, angeordnet wie die Olympischen Ringe. T-Shirts mit gleichem Aufdruck stapeln sich, das Handschellenmotiv prangt auf Postern und Postkarten. Der Umsatz an solchen Marketing-Artikeln gegen Olympia ist mäßig.

Vorbereitungen gehen ins siebente Jahr

In der Hochburg der Exiltibeter sind jedoch alle von der Richtigkeit der Kampagne überzeugt, ganz besonders die zahlreichen Ausländer, die sich Wochen, manche aber auch Jahre in Dharamsala aufhalten -- mit der einzigen Vision, zur Befreiung Tibets von der chinesischen Vorherrschaft beizutragen. Wer dieses Ideal nicht teilt, verirrt sich nicht in den kleinen Flecken, der außer der bescheidenen Residenz des Dalai Lama kaum Sehenswertes bietet. Die Mischung von westlicher Hippie-Kultur mit ihren Internetcafés, Bars und Reisebüros und traditionellen tibetischen Häusern, die an den steilen Hängen von Dharamsala kleben, mutet wie eine Art Disney-Land an -- irgendwie unwirklich und nicht für die Ewigkeit gedacht.

Dharamsala versucht eine merkwürdige Synthese des traditionellen mit einem visionär modernen Tibet. Tibeterinnen haben die Pflicht, sich traditionell zu kleiden. McLeod Ganj sieht tibetischer aus als Tibet. Aber anders als in Tibet wird die Bevölkerung langsam in die Spielregeln der Demokratie eingeführt: Gewisse Positionen in der exiltibetischen Regierung werden vom Volk gewählt -- ein ungewohnter Prozess besonders für die älteren Tibeter, die noch in strengen Hierarchien denken, an deren Spitze seine Heiligkeit steht. Jüngeren Tibetern fällt es leichter, sich an die neuen Regularien zu gewöhnen. Das liegt wohl auch daran, dass die meisten derer, die jünger als 40 Jahre sind, eben hier geboren wurden. Bis auf einige hundert, die als Kinder oder Jugendliche auf die Flucht über den Himalaja geschickt werden, sind es Tibeter der zweiten und dritten Generation, die im indischen Exil leben. Sie haben ihre Heimat noch nie gesehen und tragen -- in vielen Fällen -- ein recht verklärtes und romantisches Tibetbild mit sich, das von der Schar der ausländischen Pilger geteilt wird. Alle vereint die Vision eines geeinten, unabhängigen und freien Tibet, und für alle sitzen die Schuldigen, die das verhindern, in Peking. Deshalb der Aufruf zum Olympiaboykott, dessen Vorbereitung bereits ins siebente Jahr geht.

Warum nur waren die Chinesen vom Ausbruch der Unruhen in Lhasa und in anderen Teilen Tibets überrascht? Dass sich da eine Kampagne anbahnte, über die der Dalai Lama milde hinwegsah, war doch offensichtlich. Hoffte Peking arrogant, die Handvoll Protestierender in den Griff zu bekommen? Oder unterschätzte man das, was nun seit vier Wochen zu erleben ist? Wohl sind die exiltibetischen Gemeinschaften über die halbe Welt verstreut, doch hier in Nordindien haben sie ihr Zentrum, und sie sind bestens vernetzt. Kein Problem für sie, weltweit Aktionen gegen den Fackellauf mit dem Olympischen Feuer zu planen.

In der Unterschätzung dieser aufkommenden Protestwelle und der Hilflosigkeit der anschließenden Aktionen liegt das eigentliche Versagen der chinesischen Regierung. Sie hätte deutlich souveräner agieren können und ihrem Ruf damit weniger geschadet.

Aber auch die Tibeter haben gegen den eigenen Mythos verstoßen: Plündernde und brandschatzende Buddhisten verletzen das Selbstbild des friedlichen Mitmenschen. Dabei ging es bei den Ausschreitungen am 14. März in Lhasa wohl nicht vorrangig um ein freies Tibet. Vielmehr entlud sich da die Wut einer sich wirtschaftlich benachteiligt fühlenden Gruppe von Tibetern auf die geschäftstüchtigen Han-Chinesen. Die drängen auf die unwirtliche Hochebene mit dem einzigen Ziel, hier einige Renminbi mehr als zu Hause zu verdienen. Es muss schon eine starke Gewinnsucht dahinter stecken, wenn Chinesen in das 3600 Meter hoch liegende Lhasa ziehen: Nach der chinesischen Gesundheitslehre ist diese Höhe lebensfeindlich. Aber auch die Tibeter, besonders die Jungen, begnügen sich nicht mehr damit, wie ihre Vorfahren mit den Gebetsmühlen um den Jokhan-Tempel -- das Nationalheiligtum der Tibeter -- zu ziehen, sie wollen an der chinesischen, indischen oder westlichen Glamourwelt teilhaben, und dazu brauchen sie Geld -- das heute die Chinesen machen. Daher wohl der Hass auf die Profiteure, obwohl man ja dasselbe machen könnte, wenn man wollte. Deshalb auch die Gewalt gegen chinesische Ladenbesitzer. Aber ein friedliebender Staat war Tibet in seiner langen Geschichte ohnehin nie.

Politischen Widerstand gibt es auch. Der formiert sich in erster Linie in den zahlreichen Klöstern unweit der großen Städte Lhasa und Shigatze, die am finanziellen Tropf exiltibetischer Geber hängen und mit dem Geld auch deren Doktrinen übernehmen. Zweifellos sitzt das Trauma der Kulturrevolution noch tief, als nahezu alle 6000 Klöster Tibets -- wie überhaupt alle religiösen Einrichtungen Chinas -- zerstört und Mönche und Nonnen umgebracht wurden. Seit Mitte der 70er Jahre aber hat sich diese Situation dramatisch geändert. Die etwa 30 großen Klöster erfreuen sich regen Zulaufs potenzieller Mönche und Nonnen. Religionsausübung ist den Tibetern nach chinesischem Gesetz ebenso garantiert wie allen anderen Minderheiten und den Han-Chinesen -- solange sie nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird. Chinakritiker bemängeln, dass die Lehrpläne der Klöster durch chinesische Lerninhalte ergänzt wurden. Neben den traditionell buddhistischen Lehren sollen die Klosterschüler auch weltlichen Stoff vermittelt bekommen. Ebenso sollen Kinder, die im zarten Alter von sechs Jahren ins Kloster aufgenommen werden, bei Erreichen des Jugendalters selbst entscheiden können, ob sie ihr ganzes Leben als Mönch verbringen wollen. Dass es dabei vereinzelt zu Repressalien kommt, ist kaum zu bestreiten.

Modernisierung ändert Lebensformen

Mehr als 85 Prozent der Tibeter leben heutzutage auf dem Lande. Weder ihre kulturelle noch ihre religiöse Identität ist bedroht. Wie seit eh und je arbeiten sie als Yakzüchter oder Bauern, pflegen ihre religiösen Traditionen und sorgen sich ebenso wenig darum, ob das Land unabhängig ist, wie sie sich einst um den Kaiser von China gekümmert haben. Wohl leiden sie unter korrupten und unfähigen Beamten, seien es Han-Chinesen oder Tibeter, die beispielsweise Schulgeld kassieren, obwohl seit 2004 Schulgeldfreiheit herrscht, oder nur in Chinesisch unterrichten, obwohl Tibetisch als Amts-sprache der Tibeter 2002 dem Chinesischen gleichgestellt wurde. Dass in Peking erlassene Gesetze im weiten Land schlampig umgesetzt werden, ist eine Erfahrung, die nicht nur die Tibeter machen. Mit ihrer Unterdrückung oder gar einem »kulturellen Genozid« hat das jedenfalls wenig zu tun.

Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich traditionelle tibetische Lebensformen, was immer man darunter versteht, in den Städten stark verändern. Das resultiert aus der Öffnung der Region sowohl für in- und ausländische Touristen als auch für Investitionen -- wovon die meisten Tibeter begeistert sind. Man kann die neue Eisenbahn verteufeln, wie die Indianer einst das Dampfross, man kann auch horrende Fehlinvestitionen chinesischer Modernisierungsfanatiker kritisieren, die auf falschem Gelände aufforsten, Computer in abgelegene Flecken unter dem Himalaja liefern oder Schulen bauen, für die entweder die Lehrer oder die Schüler fehlen... Das alles geschieht aber nicht um irgendeines »Genozids« an den Tibetern willen, so etwas passiert vielmehr überall im großen Reich der Mitte und sollte nach Meinung der Pekinger Regierung eigentlich ganz anders laufen. Die Tibeter in Tibet begrüßen die Moderne, die Lhasa bessere Heizungen, gefüllte Schaufenster und sogar annehmbare Toiletten bringt. Dass ältere Menschen der schnellen Entwicklung mit all ihren guten und schlechten Seiten bisweilen kaum folgen können, erlebt man in Peking und Shanghai ebenso wie jetzt auch in Tibet.

Zurück zur Kampagne gegen die Olympischen Spiele. Wem nützt sie eigentlich? Bestimmt nicht den Sportlern der Welt, die sich vier Jahre lang auf friedliche Spiele mit sportlichen Höchstleistungen vorbereitet haben. Bestimmt auch nicht den sportbegeisterten Zuschauern in aller Welt. Nicht den Abermillionen chinesischer Gastgeber, denen die Spiele eine Chance bieten, mit Menschen aller Länder zusammenzutreffen, sich und das Land weiter zu öffnen und sich als gute Gastgeber zu zeigen.

Herber Schlag gegen eine zarte Pflanze

Am wenigsten nützt diese Kampagne den Tibetern und den aufkeimenden Kräften der chinesischen Zivilgesellschaft: Das konzertierte Handeln der Exiltibeter und die überbordende Resonanz der Medien haben die chinesische Regierung stattdessen dazu veranlasst, erst einmal die »Schotten dicht zu machen« und beispielsweise internationale Organisationen, die viel zur Armutsminderung in Tibet beigetragen haben, des Landes zu verweisen. Sollte es das Ziel der Aktionen gewesen sein, das zarte Pflänzchen von Öffnung und Demokratie in China nachhaltig zu zerstören, ist das gelungen. Zu weitergehender Autonomie können die Tibeter nur im eigenen Land und selbst beitragen: durch mehr Beteiligung, mehr Wissen und mehr Engagement, dieses Wissen in den Dienst der Entwicklung ihrer Region und des Erhalts ihrer kulturellen Identität zu stellen. Die gegenwärtige, China diffamierende Kampagne trägt nicht dazu bei, diesen Prozess zu befördern, denn sie zielt -- mit unlauteren Mitteln -- auf die Diskreditierung eines wirtschaftlich prosperierenden und zum Konkurrenten heranwachsenden China.

* Die Autorin war von 1999 bis 2006 als Beraterin für Zivilgesell-schaftsentwicklung in China tätig.

Aus: Neues Deutschland, 14. April 2008



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