Chinas Strategie heißt "aktive Verteidigung"
Peking sieht Nachholbedarf für sein Militär
Von Werner Birnstiel *
Auch 2008 sind die Rüstungsausgaben weltweit enorm gestiegen. Immerhin aber haben sich die
USA und Russland darauf geeinigt, bis Ende 2009 ein Nachfolgeabkommen für den Vertrag über die
Reduzierung strategischer Waffen auszuhandeln. Und wie steht China zur Sache?
Zum 60. Jahrestag ihrer Marine demonstrierte Chinas Volksbefreiungsarmee kürzlich ihre Stärke
durch eine Flottenparade. Staatspräsident Hu Jintao ließ sich Atom-U-Boote und andere Träger
moderner Waffensysteme präsentieren. Chinas Medien werteten das als »Übernahme größerer
Verantwortung für die friedliche Entwicklung der Nation«. Die Notwendigkeit dafür ergebe sich aus
der internationalen Sicherheitslage.
In Peking nimmt man durchaus zur Kenntnis, dass im Zuge der Globalisierung die wechselseitigen
ökonomischen Abhängigkeiten zunehmen. Bei aller Widersprüchlichkeit der Entwicklung wüchsen
das gemeinsame Interesse der wichtigsten Mächte an Sicherheit und der Wille, das Risiko eines
Weltkrieges zu mindern.
Zugleich aber verschärfe sich der Kampf um strategische Ressourcen und Standorte. Nach wie vor
werde Machtpolitik betrieben, lokale Konflikte weiteten sich auf ganze Regionen aus. Die von den
USA ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise werde auch die Konflikte um Energie- und
Lebensmittelversorgung anheizen. Terrorismus, Umweltkatastrophen, Epidemien, organisiertes
Verbrechen und Piraterie würden zunehmen. Unter diesen Bedingungen gewänne das Streben nach
Sicherheit größeren Einfluss auf die internationalen Beziehungen und die »Revolution im
Militärwesen« trete in ein neues Stadium ein.
Ungeachtet dessen schätzt Chinas Führung die Lage im asiatisch-pazifischen Raum als relativ stabil
ein – auch dank der enormen ökonomischen Entwicklung in der Region. Sie fördere das Streben
nach friedlicher Streitbeilegung. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in der China mit
Russland und anderen asiatischen Staaten kooperiert, habe sich vollauf bewährt, ebenso die
Kooperation mit der ASEAN, mit der auch Japan und Südkorea zusammenarbeiten.
Zugleich gebe es aber Unwägbarkeiten auch in Bezug auf die asiatisch-pazifische Sicherheit. Dazu
trügen die heftigen Turbulenzen in der Weltökonomie bei, ethnische und religiöse Konflikte,
ungelöste territoriale und maritime Streitfragen. Erschwerend komme hinzu, dass die USA ihre
Militärallianzen und ihre militärischen Kapazitäten auch und gerade in dieser Region ausweiten.
Angesichts dessen betrachtet es Chinas Führung als legitim und notwendig, die wirtschaftliche
Modernisierung mit der Modernisierung und Reformierung der 2,1 Millionen Mann starken Armee zu
verbinden. Von der konsequenten Umsetzung einer Strategie der »aktiven Verteidigung« ist in
Peking die Rede. Berechtigt sieht man sich dazu auch wegen beträchtlichen Nachholbedarfs: So
läge das Wachstum der Militärausgaben – zwischen 1998 und 2007 lag es im Jahresdurchschnitt bei
15,9 Prozent – deutlich unter dem Wachstum der Staatsfinanzen von jährlich 18,4 Prozent. Wohl
kletterte der Verteidigungshaushalt von umgerechnet 35,95 Milliarden Euro im Jahre 2007 auf 41,78
Milliarden Euro 2008. Doch berechnet auf einen Soldaten machten Chinas Militärausgaben 2007 nur
4,49 Prozent dessen aus, was die USA pro Soldat aufbrachten. Während China nämlich für seine
Verteidigung 20 300 US-Dollar je Soldat aufwandte, berechneten die Fachleute für Russland 28 200,
für Deutschland 141 700, für Großbritannien 382 300 und für die USA gar 451 000 Dollar pro Militär.
Diese Gelder schließen auch die Aufwendungen für die nukleare Bewaffnung der
Atomwaffenmächte ein. China besitzt heute schätzungsweise 180 nukleare Sprengköpfe,
Großbritannien um die 160, Frankreich etwa 300, die USA besitzen zirka 4000 und Russland 3000.
Dass Peking in naher Zukunft auf Atomwaffen verzichten wird, ist angesichts dieses
Kräfteverhältnisses zu bezweifeln. Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt müssen aus Sicht Chinas
zuerst die USA und Russland tun.
* Aus: Neues Deutschland, 11. Mai 2009
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