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Bye, bye, Billigproduktion

Merkel-Besuch: Chinesen zeigten sich selbstbewußt. Land steigt in Hightech-Zeitalter ein. Hohe Nachfrage läßt Löhne steigen und Binnenwirtschaft wachsen

Von Wolfgang Pomrehn *

Das Auge der Medien war wieder auf das Reich der Mitte gerichtet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war bis zum Freitag auf Staatsbesuch in China. Zählbare Hilfe für die in Finanznöten steckenden Euro-Länder über den Umweg des Internationalen Währungsfonds (IWF) konnte sie nicht mitbringen, obwohl Peking darauf setzt, seinen Einfluß im Fonds auszubauen. Immerhin machte Ministerpräsident Wen Jiabao klar, daß die Euro-Krise Beijing nicht völlig kalt läßt. Denn die EU ist der größte Handelspartner der Volksrepublik. Die Chinesen fordern aber Gegenleistungen: Zusammenarbeit bei modernen Technologien und der Abwehr protektionistischer Maßnahmen der USA. Im dort anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf werden die Töne gegen die chinesische Exportindustrie wieder schriller.

Die letzte Station von Merkels Reise war die südchinesische Metropole Guangzhou (Kanton), Hauptstadt der Provinz Guangdong. Die gehört mit dem Perlflußdelta, an dem auch die heute autonomen Stadtstaaten Macao und Hongkong liegen, zum industriellen Herzen Chinas. Die Bundeskanzlerin traf dort mit Provinz-KP-Chef Wang Yang zusammen, der beim anstehenden Wechsel an der Staats- und Parteispitze aller Voraussicht nach in den inneren Zirkel der Macht aufsteigen wird. In diesem Frühjahr wählt die chinesische KP auf einem Parteitag die landesweite Führung für die nächsten zehn Jahre, und Wang gilt als aussichtsreicher Kandidat für das neunköpfige Politbüro. Und nur das hat in China das Sagen.

In Guangdong waren Anfang der 1980er Jahre die ersten Sonderwirtschaftszonen eingerichtet worden. Ein Schritt zur Anwerbung ausländischen Kapitals und zum Aufbau einer arbeitsintensiven Konsumgüterindustrie. Die war ganz auf den Export ausgerichtet und legte den Grundstein für Chinas ökonomischen Aufstieg. Mit dem so akkumulierten Kapital konnte nach und nach die Infrastruktur aufgebaut werden und eine moderne Industrie, die höhere Wertschöpfung ermöglicht.

Inzwischen ist die auf der Ausbeutung schlecht ausgebildeter junger Wanderarbeiter basierende Textil- und Spielzeugindustrie ein Auslaufmodell. Die chinesische Führung setzt auf einen rasche technologische Entwicklung und auf die des Binnenmarktes, und wieder steht Guangdong dabei im Zentrum. Dort ist der Mindestmonatslohn gerade zum dritten Mal binnen zweier Jahre erhöht worden, und zwar um 13,6 Prozent auf 1500 Yuan (182 Euro). Das ist für die dortigen Verhältnisse dennoch ein geringes Einkommen, und die Fabriken finden dafür keine Beschäftigten mehr. Nicht einmal eine Lohnverdoppelung würde ausreichen, um den verbreiteten Arbeitskräftemangel auszugleichen. Und so demontieren immer mehr Betriebe der arbeitsintensiven Branchen ihre Anlagen, um neue Fabriken in Vietnam, Bangladesch oder im chinesischen Hinterland aufzubauen.

Ähnliches spielt sich etwas nördlich von Guangdong in Schanghai und der umliegenden Region ab, einem weiteren großen Industriezentrum des Reichs der Mitte. Nach dem landesweiten Urlaub zum chinesischen Neujahrsfest, das in diesem Jahr auf den 23. Januar fiel, kehrten viele der auswärtigen Arbeiter nicht mehr zu ihren alten Jobs zurück. Auch in Schanghai werden sie wählerischer. Die jungen Arbeiter, die heute zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, haben eine bessere Ausbildung als ihre Eltern genossen und verlangen deshalb höhere Einkommen. Die Spanne zwischen ihren durchschnittlichen Erwartungen und den Angeboten beträgt in Schanghai derzeit 2000 Yuan (241 Euro), schreibt die Nachrichtenagentur Xinhua. 5000 Yuan (603 Euro) erwarteten die meisten in diesem Jahr als Monatsgehalt. 2011 betrug das Durchschnittseinkommen in Schanghai nach Xinhua-Angaben aber nur 3896 Yuan (467 Euro). Für Unternehmer, die Bewerbern nicht viel mehr als 3000 Yuan (362 Euro) bieten, ist das ein großes Problem. Der Arbeitskräftemangel ist in Schanghai so gravierend, daß junge Menschen zwischen angebotenen Stellen frei wählen können. Viele ziehen es dann vor, bei vergleichbaren Löhnen in der Heimatprovinz zu arbeiten.

Wie alle industriellen Zentren an Chinas Süd- und Ostküste ist Schanghai bisher auf ein großes Heer von Wanderarbeitern angewiesen. Vier Million sind es aktuell, eine weitere Million Menschen unterhält dort verschiedene Kleingewerbe. Daß die Bevölkerung überhaupt nach der Herkunftsgemeinde unterschieden wird, liegt daran, daß China noch immer ein System der Haushaltsregistrierung hat, das die Wohnortwahl seiner Bürger stark einschränkt. Um das amtliche Niederlassungsrecht in einer großen Stadt zu erhalten, mit dem diverse soziale Rechte und oft sogar das auf Schulbesuch für die Kinder verbunden sind, müssen die Anwärter entweder Geld oder viel Glück haben. Den meisten bleibt deshalb nur der Status eines Wanderarbeiters, also eines nur vorübergehenden Aufenthaltsrechts oder einer illegalen Existenz.

Allerdings wird seit einigen Jahren diskutiert, dieses System aufzuheben, um die Mobilität der Beschäftigten zu gewährleisten. Der angespannte Arbeitsmarkt liefert dafür laufend Argumente. Auf jeden Fall deutet die rasante Lohnentwicklung in China auf einen neuen Modernisierungsschub seiner Wirtschaft hin, der zu stärkerer Rationalisierung in den Betrieben und zu einer Expansion des Binnenmarktes führen wird.

* Aus: junge Welt, 6. Februar 2012


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