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Soziale Spannungen

Chinesischen Beschäftigten steigen die Löhne nicht schnell genug. Wanderarbeiter begehren gegen Diskriminierung auf

Von Wolfgang Pomrehn *

Chinas boomende Küstenprovinz Guangdong, eines der Zentren des chinesischen Wirtschaftswunders, erlebt derzeit eine neue Runde von Lohnkämpfen. Die Inflation, die zeitweise bis zu 6,5 Prozent erreichte, zuletzt aber auf drei Prozent zurückgefallen ist, hat einen nicht geringen Teil der Lohnzuwächse der letzten Jahre aufgefressen. Besonders die Bezieher der niedrigsten Einkommen haben es nach Informationen des in Hongkong erscheinenden China Labour Bulletin schwer, von ihrem mageren Verdienst zu leben.

In China gibt es auf der Ebene der Provinzen und größeren Städte Mindestlöhne. Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen, seit Beginn der 1980er Jahre Experimentierfeld der kapitalistischen Modernisierung Chinas, hatte kürzlich den Mindestlohn auf 1500 Yuan im Monat angehoben. Das entspricht am Devisenmarkt mageren 186 Euro, allerdings dürfte die Kaufkraft dieses Betrages zwei bis dreimal so groß wie in Deutschland sein. Shenzhen gehört zur Provinz Guangdong, deren Regierung eigentlich nachziehen und die Lohnuntergrenze ebenfalls auf 1500 Yuan anheben wollte. Doch nach Angaben des Labour Bulletin hat der Druck der Unternehmerlobby in der ehemaligen britischen Kolonie dazu geführt, daß die Behörden den Schritt noch nicht vollzogen haben.

Das könnte sich nun rächen. Nach Angaben des britischen Nachrichtensenders BBC kam es vergangene Woche in der unweit Hongkongs gelegenen Stadt Shaxi zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Wanderarbeitern und der Polizei. Die mehrtägigen Straßenschlachten entzündeten sich allerdings nicht direkt an der Forderung nach höheren Löhnen sondern an einem Fall von Polizeibrutalität. Beamte sollen den Sohn einer Wanderarbeiterfamilie nach einer Auseinandersetzung mit einem Einheimischen festgenommen und zusammengeschlagen haben.

Shaxi,ebenfalls in Guangdong und in der Nachbarschaft Hongkongs gelegen, wird von der Textilindustrie beherrscht. Rund 40000 Menschen sind dort in hunderten Unternehmen beschäftigt und stellen meist Billigware für den Markt in Afrika und dem Mittleren Osten her. Für China ist das allerdings ein Auslaufmodell. Aufgrund der allgemeinen Lohnzuwächse haben solche Unternehmen zunehmend Schwierigkeiten, noch ausreichend Leute zu finden, die bereit sind, für Niedrigstlöhne zu arbeiten. Schon seit einigen Jahren wandern die Betriebe daher in Nachbarländer wie Vietnam oder Bangladesh ab, wo das Lohnniveau niedriger ist.

Für die Wanderarbeiter hat die industrielle Umstrukturierung den negativen Effekt, daß sie gezwungen sein könnten weiterzuziehen – obwohl es in China trotz einiger Reformen der letzten Jahre noch immer keine Personenfreizügigkeit gibt. Jeder Bürger wird seinem Geburtsort zugewiesen und darf sich andernorts nur nach ausdrücklicher Erlaubnis dauerhaft niederlassen. Eine solche Genehmigung ist so teuer, daß sie sich ein einfacher Wanderarbeiter für sich und seine Familie nicht leisten kann. Entsprechend sind seine Ansprüche auf Arbeitslosengeld und andere Sozialleistungen sehr begrenzt, da diese meist nur Einheimischen zustehen. Bis vor kurzem hatten seine Kinder noch nicht einmal das Recht auf den Besuch einer öffentlichen Schule. Diese Ungleichbehandlung erklärt auch die starken Spannungen zwischen Einheimischen und Zugezogenen, wie sie letzte Woche in Shaxi exemplarisch zu Tage traten.

Unterdessen machen sich derzeit die Folgen der Eurokrise in einer Stagnation der chinesischen Exporte und einem damit verbundenen Rückgang des Wirtschaftswachstums bemerkbar. Die chinesische Führung geht jedoch davon aus, daß die Wirtschaft des Landes in der zweiten Jahreshälfte wieder an Fahrt aufnimmt, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Im ersten Quartal war das Wachstum auf 8,1 Prozent abgesackt. Die Regierung hatte daraufhin die Kreditzinsen und die Eigenkapitalanforderungen für die Banken abgesenkt. Letzteres bewirkt, daß diese mehr Geld verleihen dürfen. Der Rückgang bei Investitionen und Exporten – letzteres eine Folge der Krise beiderseits des Nordatlantiks – hatte zur Konjunkturabschwächung geführt.

Übers Jahr hoffen chinesische Experten immer noch 7,5 Prozent Wirtschaftswachstum und damit das offizielle Ziel zu erreichen. Ein Wachstum von sieben Prozent gilt in der Volksrepublik als Minimum, um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Zudem könnte eine zu starke Abkühlung schnell dazu führen, daß die öffentlichen Schulden aus dem Ruder laufen. Während der Finanzkrise 2008/2009, deren Auswirkungen auch China deutlich zu spüren bekam, haben lokale und regionale Behörden gewaltige Verbindlichkeiten angehäuft, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Die Folge: Ein Schuldenberg von 10,7 Billionen Yuan (rund 1,33 Billionen Euro). Das kann nur so lange gut gehen, wie die Investitionen, die mit diesem Geld getätigt wurden, weiter direkt oder indirekt Einkommen generieren.

* Aus: junge Welt, Montag, 2. Juli 2012


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