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Programm für den Umsturz

Hintergrund. Der diesjährige Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und seine "Charta 08"

Von Sebastian Carlens *

Der schwedische Chemiker Alfred Nobel hatte keine Nachkommen, die er hätte beerben können; dafür aber eine Idee, was mit dem Reichtum anzufangen sei, den er durch die Erfindung des Dynamits gemacht hatte. Nach Nobels Maßgabe sollen die Zinsen seines Vermögens »als Preis denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben«. Neben Preisen für naturwissenschaftliche Entdeckungen und Leistungen in Medizin und Literatur lobte Nobel einen weiteren Preis aus, der für Bemühungen um den internationalen Frieden an denjenigen vergeben werden soll, »der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt« habe. 2009 bekam der frischgewählte US-Präsident Barack Obama diesen Preis übereignet, und zwar bestenfalls präventiv: Die Taten, für die er geehrt wurde, konnte er noch nicht begangen haben, und bis heute sieht es nicht danach aus, als ob die Verleihung des Friedensnobelpreises etwas Grundsätzliches am außenpolitischen Kurs der USA geändert hätte. Dementsprechend schwer taten sich die Kommentatoren vor einem Jahr auch, die Verleihung zu begründen. In dieser Hinsicht scheint die Sache diesmal deutlich einfacher, geht der Preis doch an einen chinesischen »Dissidenten«, der für »Demokratie« und »Menschenrechte« in China kämpfe und deshalb ins Gefängnis geworfen wurde. »Dissidenten« aus Ländern mit sozialistischem Anspruch gehören zur bevorzugten Gruppe von Nobelpreisträgern. Der Dalai Lama war der letzte, der für seine Bemühungen, China zu verändern, ausgezeichnet wurde. Seinerseits schlug er nun Liu Xiaobo vor, und das vom norwegischen Parlament ernannte Nobelpreiskomitee folgte seiner Einlassung. Heute, am 114. Todestag Alfred Nobels, wird der Preis – in Abwesenheit – an Liu verliehen.

Bis zur Bekanntgabe der Nominierung war Liu Xiaobo weitgehend unbekannt; im Westen ebenso wie in China selbst. 1989 soll er bereits an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teilgenommen haben, 2008 trat er als »führender Verfasser« der sogenannten »Charta 08« auf. Für beides wird er durch das Nobelpreiskomitee geehrt, und wegen letzterem wird er den Preis nicht persönlich in Empfang nehmen können: Gegenwärtig sitzt Liu Xiaobo in China eine elfjährige Haftstrafe ab, zu der er wegen »Agitation mit dem Ziel des Umsturzes der Regierung« verurteilt wurde. Das alles scheint einem wohlbekannten Muster zu folgen: Ein unerschrockener Menschenrechtler, ein repressives politisches System und keine Erlaubnis, den Preis entgegennehmen zu dürfen. Nach der doch etwas zu offensichtlichen Kapriole um Obama im letzten Jahr ist in Oslo nun wieder alles im Lot. Das kommt nicht nur der Bundeskanzlerin zugute, die sich hinter Liu Xiaobo stellen und seine Freilassung verlangen kann, sondern auch den bürgerlichen Leitmedien, die auf Reizwörter wie »Menschenrechte« ausschließlich mit bedingten Reflexen reagieren.

»Bundesrepublik China«

Aus Sicht der chinesischen Regierung nimmt sich der Fall allerdings ganz anders aus. Liu Xiaobo habe mit der Veröffentlichung der »Charta 08« zum Umsturz des politischen Systems aufgerufen, damit gegen geltendes chinesisches Recht verstoßen und sei deswegen rechtskräftig verurteilt. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an einen verurteilten Kriminellen verspotte den letzten Willen Alfred Nobels, so ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums.

Ein Blick in die »Charta 08« zeigt tatsächlich gravierende Unterschiede zu üblichen Aufrufen nach »Einhaltung der Menschenrechte«, wie sie von chinesischen Dissidenten regelmäßig veröffentlicht werden. Die »Charta 08« ist kein Protestbrief und auch keine Menschenrechtsresolution, sondern ein umfassendes politisches Programm. Wie das bewußt als Vorbild gewählte Papier damaliger tschechoslowakischer »Dissidenten«, die 1977 mit der »Charta 77« zum Umsturz in der CSSR aufriefen, fordern Liu und seine Mitstreiter nicht weniger als die Abschaffung der chinesischen Verfassung und die Auflösung der Volksrepublik. Ausgangspunkt der Überlegungen Lius ist die Gründung der Volksrepublik China, die er bereits für grundsätzlich verfehlt hält: Der Sieg über Japan im Jahr 1945 habe China die Chance geboten, »sich in Richtung auf eine moderne Regierung zu bewegen«; tatsächlich jedoch habe »die Niederlage der Nationalisten« – gemeint ist die damalige diktatorisch regierende »Nationalistische Partei« Guomindang – »gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg (...) die Nation in einen Abgrund des Totalitarismus« gestoßen. Als Alternative empfiehlt Liu in der »Charta 08« ein ganz nach westlichen Maßstäben zugeschnittenes pluralistisch-parlamentarisches Regierungssystem. Besonderes Interesse verdienen drei Themenkomplexe, deren sich Liu in der »Charta« annimmt und die einen vollständigen Bruch nicht nur mit der Politik seit Gründung der Volksrepublik, sondern auch mit jahrtausendealten chinesischen Traditionen darstellen: Die Absage an den Zentralismus, die direkte Übernahme eines westlich-parlamentarischen Modells und die geforderte Radikalprivatisierung der chinesischen Gesellschaft.

In China hat der politische Zentralismus eine über zweitausendjährige Tradition. Seit der Reichseinigung durch Kaiser Qin Shihuangdi vor rund 2500 Jahren haben alle politischen Systeme des Landes an der Vorstellung festgehalten, das riesige Reich zentral von einem politischen Gravitationszentrum aus regieren zu wollen. Die gesamte chinesische Geschichte ist ohne diesen Bezug auf eine politische Zentralgewalt nicht zu verstehen: Sie ist es, die das Land mit der weltweit höchsten Einwohnerzahl und der viertgrößten territorialen Ausdehnung zusammenhält. Über 50 Nationalitäten leben in der VR China, und noch erheblich mehr Sprachen und Dialekte werden im Land gesprochen. Selbst die Hauptsprache Hochchinesisch (»Mandarin«) unterscheidet sich in ihren nördlichen und südlichen Dialekten so erheblich voneinander, daß verbale Kommunikation zwischen Chinesen aus unterschiedlichen Provinzen oft nicht möglich ist. Durch die frühe Zentralisierung wurden die Bedingungen geschaffen, die bis heute ein gemeinsames chinesisches Nationalgefühl ausmachen: Vereinheitlichung aller Maße, Gewichte und Schriftzeichen, gemeinsamer Kalender und gemeinsame Zeitmessung gehörten zum Programm des frühen kaiserlichen Zentralismus, an dem alle folgenden Dynastien festhielten. Auch die bürgerliche Revolution von 1911, die das verknöcherte Feudalsystem mitsamt der letzten Kaiserdynastie beseitigte, rührte diese alte chinesische Regierungstradition nicht an: Es kostete der jungen bürgerlichen Regierung erhebliche militärische und diplomatische Bemühungen, das zwischenzeitlich zersplitterte und unter verschiedene Warlords aufgeteilte Land wenigstens zum Teil zu einen. Die 1949 ausgerufene Volksrepublik China blieb dem chinesischen Verständnis einer Zentralgewalt ebenfalls treu.

Die Forderungen nach einer »Föderativen Republik« China, wie sie von Liu in der »Charta 08« erhoben werden, stellen einen grundsätzlichen Bruch mit dieser Tradition dar. Als politisches Vorbild dient Liu hier ein historischer Sonderweg, wie ihn beispielsweise Deutschland – in bewußter Abgrenzung zum damaligen bürgerlich-revolutionären Frankreich – einschlug, nämlich die Form eines Bundesstaates. Auf die naheliegende Frage, wie ein riesiges Land wie China unter föderativer Verwaltung als einheitlicher Nationalstaat intakt gehalten werden könne, gibt Lius »Charta« wohlweislich keine Antwort.

Begehrte Beute

Was den anzustrebenden Umbau des chinesischen Staates angeht, zeigt sich die »Charta« Lius ebenfalls unoriginell. Die betreffenden Passagen fordern im wesentlichen eine direkte Übernahme des westlichen pluralistischen Regierungssystems mit Mehrparteienmodell und parlamentarischer Gewaltenteilung. Wozu sich das Papier ebenfalls ausschweigt: Dieser Versuch wurde in China bereits unternommen – und scheiterte. Auf die demütigenden Erfahrungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, in denen das feudale China zum Spielball fremder Interessen wurde, folgten Ansätze einer Modernisierung des Landes, um den westlichen, russischen und japanischen Okkupanten die Stirn bieten zu können und China in einen modernen bürgerlichen Nationalstaat zu verwandeln. Nachdem alle Unternehmungen fortschrittlicherer Protagonisten der letzten Kaiserdynastie scheiterten, mit »Reformen von oben« das verknöcherte Feudalsystem zu modernisieren, brach 1911 eine bürgerlich-demokratische Revolution aus, die von chinesischen Intellektuellen unter Einfluß westlich-aufklärerischer Ideen geführt wurde. Es gelang den bürgerlichen Revolutionären mit Dr. Sun Yat-Sen an der Spitze, die letzte (Qing-)Dynastie zu stürzen. Eine Einigung des Landes erreichten sie hingegen nicht: Der unklare weitere Kurs und die verschiedenen lokalen Machthaber, die sich der bürgerlichen Staatenbildung verschlossen, machten China in einer Welt, die im wesentlichen unter einer Handvoll Großmächte aufgeteilt war, nur noch stärker verwundbar und endgültig zum Opfer ausländischer Aggression. Das »bürgerliche China« unter der Regierungspartei Guomindang, die nach dem Tode Sun Yat-Sens immer stärker zu diktatorischen Herrschaftsformen griff und letztlich in einer Einparteiendiktatur endete, konnte weder das Land einen noch Schutz vor Invasoren bieten. Es waren die Kommunisten, die nach dreißig Jahren Bürgerkrieg und Verwüstung das plausiblere Programm zur Rettung der chinesischen Nation zu bieten hatten; ihr Sieg im Bürgerkrieg 1949 besiegelte den vollständigen Bankrott der Politik der Guomindang. Gerade dieser Lehre aus dem Scheitern der bürgerlichen Revolution verschließen sich die »Charta«-Autoren, indem sie das Problem auf eine rein technische Frage der »besseren« Regierungsform reduzieren.

Die Hoffnungen einiger chinesischer Intellektueller, daß man nur alles Westliche eins zu eins übernehmen müsse, um so schnellstmöglich an den Entwicklungsstand westlicher Metropolen anschließen zu können, sind also keineswegs neu. Grundsätzlich übersehen wird dabei heute wie schon 1911: China ist kein hermetisch abgeschottetes Experimentierfeld. Nicht anders als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist China auch am Anfang des einundzwanzigsten begehrte Beute. Eine Schwächung oder gar eine Zerschlagung des Zentralstaates, eine formalistische Kopie des westlichen Regierungssystems hätte vor allem und erneut massive gesellschaftliche und territoriale Zentrifugalkräfte zur Folge, die China angreifbar und verwundbar machen würden.

Vorwärts in die Vergangenheit?

Mindestens ebenso radikal wie die politischen Visionen Lius nehmen sich die wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der »Charta« gefordert werden, aus: eine umfassende Privatisierung inklusive Zerschlagung aller Staatsbetriebe sowie eine Rücknahme aller Nationalisierungsmaßnahmen, die seit 1949 durchgeführt wurden. Was bedeutet dies konkret? Zunächst hat der private Sektor der chinesischen Wirtschaft in den letzten dreißig Jahren beständig an Umfang gewonnen. Die gesetzlichen Bestimmungen zu Definition und Schutz privaten Eigentums, auch an Produktionsmitteln, sind in den letzten Jahren abgerundet worden. Es geht den Verfassern also augenscheinlich nicht darum, das Recht auf eine eigene kleine Parzelle oder einen privat geführten Krämerladen einzuführen, denn dieses besteht längst. Entscheidender ist der Fokus auf die Staatsbetriebe und auf ausländisches Privatkapital: Trotz Privatisierung hält der chinesische Staat das Eigentum an beinahe sämtlichen Schlüsselindustrien, der Infrastruktur und der Kommunikation. Der Staatsbesitz nimmt unter den kapitalintensiven Industrien nach wie vor die maßgebende Rolle ein, und für private Investitionen aus dem Ausland gelten Gesetze, die so manche deutsche oder US-amerikanische Vorstandsetage regelmäßig in Rage versetzen. Wer in China investieren und produzieren möchte, so ganz knapp die geltende Gesetzeslage, hat dies in Kooperation mit chinesischen (Staats-)Betrieben zu tun. Dank dieser Regelung gelangt China immer wieder in den Mitbesitz von Patenten und Knowhow. »Satellitenfabriken« mit importierten Fachangestellten, die nur auf ungelernte inländische Handarbeiter zurückgreifen müssen, sind in China undenkbar. Eine Radikalprivatisierung, wie sie von Liu und seinen Mitautoren verlangt wird, wäre also das Wunschprogramm jedes westlichen Konzerns, der in China investiert: endlich wieder volle Kontrolle, freie Ausfuhr aller Gewinne, und möglichst wenig Qualifikation der Chinesen selbst– sie könnten auf die Idee kommen, dasselbe irgendwann billiger oder besser herzustellen.

Noch viel weiter geht die Forderung, die Bodenreform der fünfziger Jahre rückgängig zu machen. Diese enteignete zunächst etappenweise Kriegsverbrecher und Warlords, später alle Großgrundbesitzer, die sich seit Jahrhunderten an der armen Landbevölkerung bereichert hatten. Das Land wurde auf Landarbeiter und Kleinbauern verteilt und bildet die Basis der bäuerlichen chinesischen Gesellschaft seit Mitte der 50er Jahre. Ihren Abschluß fand die Bodenreform in der Nationalisierung; seither hält der Staat allen Besitz an Grund und Boden, der den Bauern auf verlängerbare und erbbegünstigte Pacht überlassen wird. Die in den 60er Jahren durchgeführte Kollektivierung, also die Zusammenfassung der bäuerlichen Einzelwirtschaften in Genossenschaften und später in Volkskommunen, ist bereits seit der Reform von 1978 weitgehend rückgängig gemacht worden; heute ist es den chinesischen Bauern freigestellt, ob sie genossenschaftlich oder privat wirtschaften wollen. Eine Umsetzung des radikalen Privatisierungsprogramms der »Charta« stünde von Anbeginn vor kaum zu lösenden Schwierigkeiten: Wie soll, 60 Jahre nach der Bodenreform, der Besitz »rückenteignet« und den vormaligen Besitzern ausgehändigt werden, soweit diese überhaupt noch leben und ausfindig zu machen wären? Was soll mit den Hunderten Millionen von Kleinbauern geschehen, die so um ihre Existenz gebracht würden? Zu all diesen Fragen schweigt die »Charta 08«.

Nicht mehrheitsfähig in China

So drängt sich zunächst die Frage auf, für wen dieses Manifest eigentlich verfaßt wurde: Nicht nur mit den extremsten Forderungen nach Rücknahme der Bodenreform, sondern auch mit den entfesselt wirkenden Privatisierungsphantasien oder den – tiefes Unverständnis über die jüngste chinesische Geschichte offenbarenden – Vorstellungen zum Umbau des politischen Systems dürften die Verfasser in China selbst kaum punkten. Nicht erst seit einer weltweiten Wirtschaftskrise, die augenfällig den Bankrott neoklassischer (»neoliberaler«) Theorien bewiesen hat, zeigt sich in China merkbarer Unmut über die Privatisierungspolitik seit der Reform von 1978. Forderungen nach »mehr Gleichheit« und eine gewisse Renaissance egalitärer Vorstellungen aus der Mao-Zeit (freilich nicht auf dem bescheidenen materiellen Niveau dieser Jahre) prägen mehr und mehr den politischen Diskurs in der Volksrepublik. Und selbst diejenigen Kräfte in China, die als kleine oder mittlere Bourgeois und als Privatkapitalisten mehr politische Mitsprache oder ungezügelteres Wirtschaften fordern könnten, wären mit Forderungen nach Zerschlagung des Nationalstaates kaum zu gewinnen. Über die Notwendigkeit eines intakten, starken Zentralstaates herrscht derzeit über alle politischen Lager und sozialen Klassen hinweg Einigkeit, und die sensiblen Reaktionen der chinesischen Bevölkerung gegenüber ausländischen Einmischungsversuchen verraten den Stellenwert einer starken Nation im chinesischen Denken. Es ist die Fähigkeit der Kommunistischen Partei Chinas, das Land politisch und wirtschaftlich stabil und gleichzeitig territorial intakt zu halten, die ihr (derzeit) auch die Unterstützung der neu entstehenden Bourgeoisie einbringt. Mit seinen westlich gespeisten Theorien, die auf einen vollständigen Bruch mit der chinesischen Geschichte hinauslaufen, werden Liu und seine Verbündeten kaum Mehrheiten in China selbst finden können.

Show des Westens

Möglicherweise geht es darum aber auch gar nicht. Die Einflußmöglichkeiten der chinesischen »Dissidenten« beschränken sich auf einen überschaubaren Zirkel Intellektueller; ein nicht unbedeutender Teil dieser Kräfte befindet sich zudem seit 1989 im Exil und damit fernab vom politischen Alltagsgeschehen in China selbst. Daß die Zeremonie der Nobelpreisverleihung in der Volksrepublik überhaupt Relevanz erlangt, kann darüber hinaus bezweifelt werden – und dies liegt keineswegs nur an einer rigiden Zensurpolitik der chinesischen Führung, die solche Meldungen unterdrücken könnte. Der Friedensnobelpreis ist eine Show des Westens für den Westen; und das politische Programm Liu Xiaobos ist das Programm deutscher, US-amerikanischer und französischer Konzern- und Regierungsetagen für China. Für das, was Liu Xiaobo in China ins Gefängnis brachte, wird er nun in Oslo geehrt, und das wird seine Funktion vollauf erfüllen: Geht es doch hier nur darum, China internationalem Druck auszusetzen und es gleichzeitig dem westlichen Publikum als »Schurkenstaat« vorzuführen.

Insofern ist es für die chinesische Regierung ein beachtlicher Erfolg, weitere 18 Staaten, darunter nicht nur enge Verbündete wie Kuba, sondern auch Länder wie Rußland und Serbien zum Boykott der heutigen Verleihung bewegt zu haben. Die Reaktion auf solches Ausscheren aus einem antichinesischen Propagandaspektakel läßt denn auch nicht auf sich warten: Einige der Staaten, die sich zum Boykott entschieden, sehen sich bereits erheblichem diplomatischen Druck ausgesetzt: Die Kommission der Europäischen Union hat insbesondere Serbien scharf für diese Entscheidung kritisiert und zeigte sich »enttäuscht und besorgt« über das geplante Fernbleiben. Serbien müsse die europäischen Werte achten, wenn es der EU beitreten wolle, und zu jenen gehörten auch »die Menschenrechte«. Im Herbst des kommenden Jahres sollten die Beitrittsverhandlungen beginnen; bliebe nun Ser­bien bei seiner »starren Haltung«, könne sich dies »negativ auswirken«. Auch Ägypten, die Ukraine und Marokko wurden von der EU aufgerufen, ihre Haltung zu »überdenken«. Alle drei Länder unterhalten Nachbarschaftsprogramme mit der EU.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang an hinter die politisch motivierte Nobelpreisvergabe gestellt, Bundeskanzlerin Merkel forderte unter anderem die Freilassung Liu Xiaobos. Der nun mittels EU ausgeübte Druck auf Staaten, die sich der eklatanten Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten verschließen, illustriert das politische Kalkül hinter der Nobelpreisverleihung.

Sebstian Carlens schreibt regelmäßig für das Internetportal »Informationen zur deutschen Außenpolitik« (www.german-foreign-policy.com)

* Aus: junge Welt, 10. Dezember 2010


Diesjaehriger Friedensnobelpreis kroent den Tag der Menschenrechte

Presseerklärung der SPD-Bundestagsfraktion **

Anlaesslich der Verleihung des Friedensnobelpreises an den chinesischen Regimekritiker Liu Xiaobo am morgigen internationalen Tag der Menschenrechte erklaert der menschenrechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Christoph Straesser:

Weltweit haben Chinas Diplomaten auf viele Staaten massiven Druck ausgeuebt, damit sie nicht an der Verleihung des Friedensnobelpreises teilnehmen. Durch diese undiplomatischen Drohgebaerden nach aussen und durch repressive Massnahmen nach innen entlarvt sich die chinesische Regierung im Vorfeld der Preisverleihung selbst. Es wird deutlich, wie wenig Meinungsfreiheit und Menschenrechte im Land gelten und wie richtig die Entscheidung des Nobelpreiskomitees war, mit Liu Xiaobo einen Mann auszuzeichnen, der wegen "Anstachelung zum Umsturz der Staatsgewalt" unschuldig im Gefaengnis sitzt.

Die SPD-Bundestagsfraktion gratuliert dem Preistraeger und bedauert, dass weder er noch Familienangehoerige den Preis persoenlich entgegennehmen koennen, da sie nicht ausreisen duerfen. Mit grossem Respekt denken wir auch an die vielen mutigen Menschen in China, die wie Liu Xiaobo fuer Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Demokratie eintreten und dabei ein hohes persoenliches Risiko eingehen.

Liu Xiaobo hat nichts "verbrochen", er hat nur seine politische Meinung vertreten. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich weiter fuer die sofortige und bedingungslose Freilassung von Liu Xiaobo und anderer inhaftierter Regimekritiker in China einsetzen.

Mit seiner Propaganda gegen den diesjaehrigen Friedensnobelpreis hat sich China in schlechte Gesellschaft begeben. Es ist schon bezeichnend, welche Staaten ihre Teilnahme an der Preisverleihung in Oslo abgesagt haben, zum Beispiel Russland, Tunesien, Saudi-Arabien, Pakistan, Iran, Sudan oder Kuba - ein "Who is Who" autoritaerer Staaten, die systematisch die Menschenrechte verletzen.

Mit der Menschenrechtslage in China und in anderen Staaten wird sich am Freitag, dem 17.12., der Deutsche Bundestag in einer Debatte befassen. Im Fokus wird das Thema "Religionsfreiheit" stehen.

** Quelle: Newsletter der SPD-Bundestagsfraktion, 9. Dezember 2010

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Der richtige Mann - aber der falsche Preis. Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag (9. Oktober 2010)




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