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Die Entwicklung des Kapitalismus in China

Von Michael R. Krätke *

Nach der politischen Zeitenwende von 1989/90 fand ein unerhörter Umbruch statt. Für die einen, die (Neo)liberalen, eine lang erwartete und letzten Endes unvermeidliche Revolution, für die anderen, die Sozialisten aller Lager (nicht nur die Altkommunisten) eine Gegenreform bzw. Konterrevolution. Der Übergang von den zentralstaatlich kontrollierten, gelenkten und geplanten, „sozialistisch“ genannten Ökonomien, zu kapitalistischen Marktökonomien war eine ganz neue Erfahrung. Auf den Zerfall der Parteiherrschaft folgte direkt ein brachialer, schockartiger Übergang zu einer Form des „wilden Kapitalismus“ (crony capitalism).

Vom „realen Sozialismus“ zum Kapitalismus?

Ganz anders in der Volksrepublik China. Dort hat in einem mehr als drei Jahrzehnte anhaltenden Reformprozess eine gründliche Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat in anderen Formen und mit anderen Ergebnissen stattgefunden. Die Diadochenkämpfe um die Nachfolge Maos nach der Katastrophe der „Kulturrevolutio“ haben nicht zum Zerfall des Riesenreichs geführt, sondern zu einer Reformkoalition aus Mitgliedern der alten Nomenklatura und neuer Funktionärseliten, die sich erstaunlich lange bis heute behaupten konnte. Dabei hat sie das Land umgekrempelt und einen unerhörten Transformationsprozess in Gang gesetzt, den sie nicht planen und beherrschen konnte. Seit 1979 wurde erfolgreich die Reintegration Chinas in die Weltwirtschaft betrieben. Mit ungeahntem Erfolg: Heute ist China die unangefochtene regionale Vormacht im gesamten ostasiatischen Raum und spielt als weltweit stärkste Exportnation, als Wachstumslokomotive eine nie dagewesene zentrale Rolle in der gesamten kapitalistischen Weltökonomie.

Das oder besser die diversen chinesischen „Wirtschaftswunder“ haben sich ohne spektakuläre politische Revolutionen vollzogen. Die KP Chinas ist nach wie vor an der Macht, sie beherrscht den Staat wie die Armee. Sie scheint die Kunst zu verstehen, den „kapitalistischen Tiger“ zu reiten, ohne gefressen zu werden. Aber nicht ohne weitgehende Veränderungen. In seiner langen Geschichte ging der Kapitalismus mit vielen Formen autoritärer, nicht-demokratischer Regime zusammen, Kapitalismus und politische Demokratie standen oft auf sehr gespanntem Fuß. China bietet das neue Phänomen eines Parteistaates, der eine ganz eigenartige Spielart kapitalistischer Ökonomie hervorgebracht hat und mit ihr leben zu können scheint.

Parteistaat und gemischte Wirtschaft

Hoch offiziell gesprochen und verkündet – von Partei, Regierung und Verfassung in zahllosen Dokumenten seit dem 14. Parteitag der KP Chinas 1992 – entwickelt sich in China eine „sozialistische Marktwirtschaft“, eine ganz eigene Form von „Marktsozialismus“. Nach wie vor besteht offiziell eine Planwirtschaft. Wir befinden uns in der Periode des zwölften Fünfjahresplans. Für die meisten Bewunderer wie Kritiker Chinas ist das reines Dekorum, an Chinas Wirtschaft können sie keine Spur von „Sozialismus“ mehr entdecken. Tatsächlich fällt es schwer, in der chinesischen Wirtschaft heute noch einen „sozialistischen Sektor“ auszumachen.

Um zu klären, was an Chinas Wirtschaft und Gesellschaft heute noch die Bezeichnung „sozialistisch“ verdient, muss man sich erst über die eigenartige Spielart von Kapitalismus verständigen, die dort in den letzten dreißig Jahren entstanden ist. Die meisten gängigen Kategorien und Erklärungsmuster, die aus der vergleichenden und internationalen politischen Ökonomie stammen, passen schlecht oder gar nicht auf die heutige Form des Kapitalismus in China. Einige ältere wie der „politische Kapitalismus“ oder der „Staatskapitalismus“ passen schon besser.[1]

Mit den postsozialistischen Ökonomien Russlands bzw. Osteuropas ist China nicht gleichzusetzen. Der Vergleich zeigt nur, dass Chinas Kapitalismus anders ist. Partei und Staat haben sich nicht zurückgezogen und dem „Markt“ bzw. privaten Unternehmen das Feld überlassen, ganz im Gegenteil. Staatskonzerne sind nicht in den Händen von Mafias, die sich Staatsmonopole bauen. Ist China ein weiteres Beispiel für einen „Entwicklungsstaat“, wie es ihn in Asien (und anderswo) gibt? Also für eine staatlich gelenkte, geplante und organisierte exportorientierte Industrialisierung und eine staatlich regulierte Marktökonomie nach dem Beispiel Japans, Südkoreas und anderer „asiatischer Tigerstaaten“? Ist die VR China dem Vorbild Hongkongs oder Taiwans gefolgt? [2] Ja und nein. Chinas Aufstieg ist nicht weniger eindrucksvoll als der Japans und anderer ostasiatischer Ökonomien, er hängt mit diesen zusammen. Aber die chinesische Entwicklung folgte einem ganz eigenen Muster, keinem ausländischen Modell. Chinas politische Struktur entsprach und entspricht nicht dem westlichen Bild und passt nicht ins Schema des einheitlich, nach Plan agierenden „Entwicklungsstaats“.[3]

Das Raster „asiatischer Kapitalismus“ ist zu grob, um die Eigenart des chinesischen Kapitalismus zu erfassen. Sicher, in China gibt es staatliche Lenkung, Koordination, einen weit gehenden Staatsinterventionismus auf vielen Ebenen. Sicher, in China gibt es einige Formen des „Netzwerk-Kapitalismus“. Kooperationsnetzwerke zwischen Unternehmen (und staatlichen Instanzen), gestützt auf Familienverbände, auch über die Landesgrenzen hinaus (wo die Handelsnetzwerke der Auslandschinesen überall in Ostasien und darüber hinaus ins Spiel kommen) sind wichtig, um das Funktionieren der chinesischen Spielart von Markt- und Konkurrenzökonomie zu erklären. Ebenso tun dies die informellen, reziproken (auf Dienst und Gegendienst und gegenseitige Verpflichtungen basierenden) persönlichen Beziehungen, die mit dem schwer übersetzbaren chinesischen Begriff Guanxi bezeichnet werden.

Der chinesische Staatskapitalismus

Chinas ökonomische Erfolge widerlegen einige der Glaubensartikel der bei uns herrschenden Wirtschaftsreligion. So den heiligen Glauben an die ökonomische Ineffizienz von Staatsunternehmen und den ebenso heiligen Glauben an die Ineffizienz von nicht eindeutig und formal fixierten und geregelten Eigentumsrechten. In China gibt es beides: höchst effiziente, erfolgreiche staatskapitalistische Konzerne und eine hoch flexible Verhandlungsökonomie mit staatlicher Beteiligung und Patronage, die deutschen Rechtsvorstellungen zuwider läuft. Um Chinas hoch politische Ökonomie zu verstehen, muss man sich von simplistischen Denkmustern à la „Markt“ versus „Staat“ und von neoliberalen Dogmen verabschieden.

Tatsächlich koexistieren, kooperieren und konkurrieren in Chinas heutiger Wirtschaft sehr verschiedenartige Formen von Unternehmen: SOEs, COEs, TVEs, POEs, FOEs – wie die im Englischen gebräuchlichen Abkürzungen lauten – und noch etliche weitere hybride Formen.[4] Chinas Wirtschaftsordnung, in der heute alle diese Typen, jeweils noch in vielen Varianten und Spielarten, neben- und durcheinander existieren, ist also recht gemischt.

In dieser Ordnung spielt der Staat und spielen die Staatsunternehmen (SOEs) eine herausragende Rolle. Aber der chinesische Staat ist kein zentralisierter, von oben nach unten strikt kontrollierter Einheitsstaat. Diese Legende muss man schleunigst vergessen. Chinas politische Struktur ist stark fragmentiert, der Zentralstaat lässt den Regionen (22 Provinzen, 5 Autonomen Regionen und noch einigem mehr) weitgehende Autonomie, und diese nutzen sie. Die regionalen und lokalen Partei- und Staatsapparate betreiben ihre eigene Wirtschaftspolitik. Sie bilden dazu Allianzen mit regional und überregional tätigen Unternehmen (privaten, kollektiven, halbstaatlichen, staatlichen, hybriden), die sie mit allen verfügbaren Mitteln fördern – und von denen sie im Gegenzug einen gehörigen Beitrag zur regionalen Wirtschaftsentwicklung verlangen. Patronage in und durch Netzwerke, in denen lokale und regionale Staats- und Parteifunktionäre mit Unternehmern und Unternehmen aller Arten zusammen arbeiten, spielt für die wirtschaftliche Entwicklung in der Konkurrenz mit anderen Regionen die Schlüsselrolle. In diesem System der gemischten privatöffentlichen Allianzen und Partnerschaften versteht es sich von selbst, dass Chinas Kapitalisten exzellente Beziehungen zu Staat und Partei auf allen Ebenen pflegen; Verwandte und Freunde in möglichst vielen Staats- und Parteiapparaten zu haben, gehört zum Geschäft. Ebenso wichtig ist es für Staats- und Parteifunktionäre Beziehungen zu Unternehmen und Unternehmern zu unterhalten. Sie agieren in und mittels privatöffentlichen Netzwerken in rivalisierenden Allianzen.

In Chinas sehr eigentümlichem „Wettbewerbsstaat“, der auf zahlreichen, miteinander konkurrierenden lokalen Entwicklungsstaaten und einem lockeren, auf Allianzen gebauten Korporatismus beruht, ist der Zentralstaat keineswegs neutral, er mischt kräftig mit. Da er nach wie vor die wichtigsten und größten Staatskonzerne und vor allem die größten Banken (einschließlich der Zentralbank) kontrolliert, geht seine Rolle weit über die Rechtssetzung und den Auf- und Ausbau der überregionalen Infrastruktur hinaus. Er kann mit Hilfe spezieller Aufsichts- und Kontrollinstitutionen die Staatskonzerne lenken und im System des chinesischen de facto Föderalismus durchaus überregionale, nationale Wirtschaftspolitik betreiben. Er braucht dazu die Regionen, wenigstens einige größere, baut also selbst Allianzen. Die waren und sind sehr erfolgreich. Das Regime der chinesischen Exportöko-nomie basiert auf solchen Allianzen zwischen Zentralstaat, Staatskonzernen, Staatsbanken und den südöstlichen Küstenregionen, die ihren industriellen Entwicklungsvorsprung gegenüber anderen Regionen halten und ausbauen wollen.

Es gab in der langen Reformperiode verschiedene Phasen mit durchaus gegenläufigen Entwicklungen – Dezentralisierung und wieder Rezentralisierung von Kompetenzen und Ressourcen zwischen Zentralstaat und lokalen bzw. regionalen Staatsapparaten, informelle und formelle Privatisierung, Abbau und Konzentration der staatlichen Planung. Der Regionalisierung der politischen Entscheidungsbefugnisse und Ressourcen (vor allem der Steuereinahmen) entsprach der Verlust an zentralstaatlicher Kontrolle über die Staatsunternehmen. Die großen und relevanten SOEs sind heute börsennotiert, arbeiten allesamt gewinnorientiert und sind mehrheitlich in staatlichem Eigentum. Wo es um die Ressourcen geht, die der Staat nach wie vor kontrolliert (Kredite, Land bzw. Nutzungsrechte an Boden und natürlichen Ressourcen, Subventionen), sind sie privilegiert. Seit Ende der 1990er Jahre hat der Zentralstaat die Kontrolle über eine Gruppe von rund 200 der größten Staatskonzerne in den Händen einer zentralen Aufsichts- und Verwaltungskommission (SASAC) zusammen gefasst, die aber keine Planungsbehörde darstellt. In der zentralstaatlichen wie in der regionalen Wirtschaftspolitik sind große Staatskonzerne oft Hauptakteure in strategisch bedeutsamen Allianzen, werden von den staatlichen Instanzen als solche eingesetzt und entsprechend behandelt.

Die neue Arbeiterklasse

In der VR China regiert die Kommunistische Partei, aber offiziell ist sie schon lange keine Partei der Arbeiterklasse mehr. Seit Ende der 1970er Jahre sind in China mehr Bauern in kürzester Zeit in städtische Industriearbeiter verwandelt worden als je zuvor in der Geschichte des modernen Kapitalismus.

Den neuen Industriearbeitern, darunter über 200 Millionen Wanderarbeiter, geht es nicht gut. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde in China ein regelrechter Arbeitsmarkt geschaffen, seitdem wurden neue Arbeitsverträge eingeführt und das alte System der Einheit von Arbeitsplatz, Wohnung und sozialer Sicherheit in den sozialistischen Staatsbetrieben aufgelöst.

In der chinesischen Spielart des Kapitalismus herrscht ein merkwürdiger Korporatismus: Staatsgewerkschaften (freie, unabhängige Interessenvertretungen der Lohnabhängigen gibt es nicht) und staatlich gelenkte Unternehmerverbände spielen mit dem Staat, der daher mit sich selbst verhandelt. Betriebliche Interessenvertretungen sind in den Händen der Staatsgewerkschaftsfunktionäre. Im besten Fall sind sie, ähnlich wie in japanischen oder koreanischen Großkonzernen, Klienten eines Betriebspaternalismus. Dem entsprechend heftig, häufig und hart sind die unweigerlich „irregulären“, weil schwach oder gar nicht formell geregelten Arbeitskonflikte in der Volksrepublik. Genau hier, auf den Arbeitsmärkten funktioniert Chinas System der regulierten, ausgehandelten Marktbeziehungen kaum, weil die Lohnarbeiter als eigene Akteure mit eigenen, vom Staat und den Unternehmen unabhängigen Interessen offiziell und formell nicht zugelassen sind. Das ist die schwarze Seite des chinesischen Staatskapitalismus. Am besten funktioniert es noch innerhalb der einzelnen Betriebe, wo die traditionelle Form der persönlichen Verpflichtungen (nach dem Guanxi-Prinzip) auch für die Beziehungen zwischen Management und Beschäftigten gilt.

Was ist da noch „sozialistisch“?

In China herrscht der Staat, nicht die Börse. Die wichtigste Finanzierungsquelle für alle Unternehmen, die staatlichen, die kommunalen, die privaten usw., sind nach wie vor Kredite der Banken und nicht die Finanzmärkte. Chinas Staatskapitalismus kennt Finanzmärkte, die potenziell zu den größten Börsen der Welt gehören. Aber der größte Teil der Aktien sind nach wie vor nicht frei handelbare Aktien von Staatsunternehmen, und der Staat ist der größte Anteilseigner bei den meisten und wichtigsten börsennotierten Unternehmen geblieben. Daher kann von einem von den Finanzmärkten beherrschten oder gar getriebenen Kapitalismus keine Rede sein. Der Zentralstaat beherrscht über die Zentralbank und die vier größten, börsennotierten, aber nach wie vor staatlichen Geschäftsbanken (mit weit über 50 Prozent der Bilanzsumme des gesamten Bankensystems) den gesamten Kreditsektor. Daher war der chinesische Zentralstaat imstande, der großen Krise rasch und entschlossen mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen zu begegnen, die alles in den Schatten stellten, was die Europäer und Amerikaner zustande brachten.

Eine bunt gemischte Wirtschaftsordnung mit vielerlei Unternehmensformen, mit starker staatlicher Kontrolle und mit einer wirksamen Konkurrenz, die durch Allianzbildungen und Aushandlung von Kompromissen auf mehreren Ebenen geprägt ist, bietet durchaus Ansatzpunkte für eine „marktsozialistische“ Ordnung. Allerdings braucht es dazu ein Element, das in China vorläufig fehlt: Wirtschaftsdemokratie, betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung der Lohnarbeiter, Koalitionsrechte, freie Gewerkschaften. Ohne politische Demokratie ist eine Wirtschaftsdemokratie aber nicht zu denken und nicht zu haben. An diese Reform trauen sich Chinas Herrscher, die Oligarchien von Partei-, Staats- und Unternehmensmanagern bzw. Kapitalisten nicht heran. Aus zwei Gründen: Die industrielle Entwicklung Chinas ist noch lange nicht abgeschlossen, aber die ökologischen und sozialen Probleme, die sie bewirkt, sind schon jetzt gewaltig. Und den großen, weiten Weltmarkt, von dem der Erfolg der chinesischen Entwicklungsstrategie abhängt, haben sie nicht unter Kontrolle.

Fußnoten
  1. Das Konzept des ‚politischen Kapitalismus“ findet sich in verschiedenen Varianten bei Max Weber, das Konzept des „Staatskapitalismus“ ist in der sozialistischen und marxistischen Tradition immer wieder breit diskutiert worden.
  2. Vgl. dazu die Studie von Robert Wade, Governing the Market, Princeton / Oxford 1990.
  3. Vgl. dazu John Howell, Reflections on the Chinese State, in: Development and Change, 37 (2), 2006, pp. 273 – 297.
  4. SOE bedeutet Staatsunternehmen, COE Kollektivunternehmen, TVE städtische und dörfliche (kommunale) Unternehmen, POE entsprechend Privatunternehmen, je nach dem Mehrheitseigentümer. Einige Mischunternehmen haben quasi-genossenschaftliche Strukturen. FOE bedeutet Unternehmen in ausländischem Eigentum (ausländischer Kapitalanteil von mehr als 25%), dazu gehören auch viele Joint Ventures.
Dr. Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Lancaster University und Mitherausgeber der spw.


* Dieser Beitrag erschien in spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 6/2012, S. 16-20.

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