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Klotz an Chinas Bein

Neue Führung sagt Korruption den Kampf an: Bestechung, Unterschlagung und Vetternwirtschaft sind Gift für das soziale Gefüge und die wirtschaftliche und politische Stabilität

Von Rainer Rupp *

Am Wochenende begann in China ein neues Kalenderjahr – das Jahr der Schlange. Das namensgebende Tiersymbol verkörpert Weisheit und geschicktes Handeln ebenso wie Zielstrebigkeit. Der neugewählten Führung um Staatschef Xi Jinping soll das durchaus als Richtschnur dienen bei der Konsolidierung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Nicht nur auf die Sicherung eines sozialen Ausgleichs bei der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte wollen Politbüro und Ministerrat achten, sondern sie wollen auch eines der Grundübel der Gesellschaft ausmerzen: die Korruption.

Die gilt auch offiziellen chinesischen Berichten zufolge als allumfassend und hat längst höchste Ränge von Staat, Partei und Sicherheitsorganen durchdrungen. Diese Entwicklung könne »zum Untergang von Partei und Staat« führen, warnte der scheidendeVorsitzende Hu Jintao auf dem 18. Parteitag. Zu den wichtigsten Erscheinungsformen zählen Manipulation von Entscheidungsprozessen, direkte Bestechung, Unterschlagung, Vetternwirtschaft, Klientelismus und Betrug mit gefälschten Statistiken. Nicht zuletzt dies hat auch die Parteiführung in den Augen der Bevölkerung zunehmend delegitimiert. Laut Professor Yan Sun von der City University of New York gibt es in der Wahrnehmung der chinesischen Bevölkerung heute mehr unehrliche als ehrliche Parteikader, eine völlige Umkehr der Ansichten, die noch in der ersten Dekade der Reformen in den 1980er Jahren herrschte.

In der langen Zeit der zivilisatorischen Entwicklung hatte und hat die Korruption einen festen Platz in der chinesischen Gesellschaft, selbst als sie unter Mao Tse Tung mit Hilfe brutaler Maßnahmen eine Zeitlang unter Kontrolle zu sein schien. Aber in dem Maß, wie die gesellschaftliche Liberalisierung fortschritt, nahmen Bestechung und Co. wieder rapide zu, bzw. wurden wieder thematisiert.

Der Spezialist für chinesische Regierungs- und Verwaltungsprobleme, Professor Minxin Pei vom Claremont McKenna College, bezeichnet das Phänomen als größte Gefahr für Chinas zukünftige wirtschaftliche und politische Stabilität. Nicht zuletzt diese Erkenntnis hat in Chinas Führungsgremien dazu geführt, daß beim letzten Parteitag Anfang November 2012 sowohl der scheidende (Hu Jintao) als auch der neue Parteichef Xi vor dem gesamten Kongreß das Thema ungewöhnlich offen angesprochen und die Entschlossenheit der Parteiführung bekräftigt hatten, dieses die Gesellschaft zersetzende Gift zu eliminieren. Die Drohungen klangen jedoch hohl, und das aus gutem Grund.

Seit einiger Zeit kursieren insbesondere über das Internet überall in China verbreitete Berichte, wonach auch Spitzen der Parteiführung durch und durch korrupt sind. Verwandten von mehreren Top-Politikern wird nachgesagt, daß sie quasi aus dem Nichts großen persönlichen Reichtum angehäuft haben, der in etlichen Fällen detailliert aufgelistet ist. Darunter sind auch die Angehörigen von Ex-Premier Wen Jiabao mit angeblich drei Milliarden US-Dollar Vermögen. Dagegen nehmen sich die 376 Millionen Dollar, über die laut US-Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg die Familie des ehemaligen Vizepräsidenten und neuen Parteichefs Xi geradezu bescheiden aus.

Wie verwurzelt das Problem in der chinesischen Gesellschaft ist, zeigt auch ein im Juni 2011 veröffentlichter Bericht der Bank des Chinesischen Volkes (Zentralbank). Die untersuchte, mit welchen Methoden hauptsächlich bestechliche Beamte gigantische Vermögenswerte ins Ausland transferierten, insbesondere in die USA. Es werden u.a. Daten aus einer Untersuchung der Pekinger Akademie der Sozialwissenschaften zitiert, wonach seit 1990 insgesamt 18000 höhere Kader der Kommunistischen Partei, Regierungsbeamte, Mitglieder der Sicherheitsorgane, der Justiz, und Führungskräfte der staatlichen Unternehmen und Institutionen aus China geflohen seien. Mit ihnen sind umgerechnet mindestens 120 Milliarden US-Dollar »abgewandert«.

Der Schaden könnte sogar weit höher sein, denn die Zentralbank betont, daß noch niemand in der Lage gewesen sei, die genaue Höhe der gestohlenen Gelder zu berechnen. Aber auch für sich allein genommen ist die Summe riesig – in etwa soviel, wie die Regierung in den 20 Jahren von 1978 bis 1998 insgesamt für die Bildung des 1,3 Milliarden-Einwohner-Staates ausgegeben hat. Jeder der Geflüchteten hat im Durchschnitt sieben Millionen Dollar mitgehen lassen. Wahrscheinlich gibt noch viel mehr Fälle wie den des stellvertretenden Chefingenieurs des Ministeriums der Eisenbahnen, Zhang Shuguang, der inzwischen wegen Korruption inhaftiert wurde. Chinesischen Medienberichten zufolge besitzt dessen Ehefrau drei Luxusvillen in Los Angeles und verfügt über Sparguthaben in den USA und der Schweiz von 2,8 Milliarden Dollar.

Laut einer Schätzung des Investitionsberaters und China-Kenners Graham Summers beläuft sich die Summe des zu entrichtenden Schmiergeldes auf fünf bis zehn Prozent der Kosten eines jeden Projektes. Allerdings ist die Justiz nicht untätig. Nach einer Summers-Analyse vom 27. Januar 2013 wurden allein im Jahr 2010 insgesamt 146000 neue Korruptionsfälle in Chinas untersucht, etwa 400 pro Tag. Aber nur bei einem ganz kleinen Teil kommt es zum Prozeß. Der Grund: Kungelei und Schmiergeldzahlungen. Und noch seltener werden derartige Prozesse in den Medien aufgegriffen. Von den 146000 Fällen kamen nur 14 an die Öffentlichkeit. Durchschnittlich 18 Millionen Yuan (ca. 2,2 Millionen Euro) wurden gestohlen. Im Vergleich: der Durchschnittslohn eines Universitätsangestellten in China beträgt 2500 Yuan im Jahr.

Was die chinesische Justiz nicht schafft, das hat inzwischen das Internet erreicht. Dort schießen Blogs wie Pilze aus dem Boden. Dadurch kann jeder den jeweiligen Wissensstand zu lokalen, regionalen und landesweiten Korruptionsfällen für alle anderen Nutzer sichtbar durch eigene Hinweise und Fakten erweitern. Diese Methode scheint inzwischen weitaus wirksamer zur Korruptionsbekämpfung zu sein, als die meist verdeckten Justizverfahren.

* Aus: junge Welt, Montag 11. Februar 2013


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