Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein fragwürdiges Lehrstück

Debatte. China - eine imperialistische Macht? Antworten an Renate Dillmann

Von Helmut Peters *

Die Redaktion der jungen Welt hat mich gebeten, mich zum Beitrag von Dr. Renate Dillmann, »Großmacht China?« (jW v. 15.12.09) zu äußern. Dem komme ich aus grundsätzlichen Überlegungen gern nach. Ich halte es allerdings nicht für zweckmäßig, es bei diesem Beitrag zu belassen. Da er inhaltlich ihrer umfassenden Veröffentlichung »China. Ein Lehrstück« (Hamburg 2009) entnommen ist, ist es sinnvoller, ihn im Zusammenhang mit dem Grundanliegen des Buches zu analysieren.

Das Buch »China. Ein Lehrstück« ist eine Mischung von dozierter ideologischer Grundsatzerklärung in eigener Begrifflichkeit und deren schematischer Anwendung auf die Betrachtung von wesentlichen ökonomischen, sozialen, innen- und außenpolitischen Aspekten in Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik China. Auf dieser Grundlage wird die Entwicklung des Landes von 1949 bis zur Gegenwart zweigeteilt - 30 Jahre »Sozialistische Volksrepublik« und 30 Jahre »kapitalistische Volksrepublik« (Groß- und Kleinschreibung wie im Buch - H. P.).

Dillmann beansprucht für sich, die Entwicklung der Volksrepublik China vom Standpunkt des Marxismus analysiert und verallgemeinert zu haben. Mehr noch, sie nennt ihre Veröffentlichung ein »Lehrstück«. Das kann nur als Anspruch verstanden werden, dem Leser endlich die authentische Lesart von Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik mitgeteilt zu haben. Dem entspricht auch die arrogante Art und Weise, mit der die Autorin vermeint, die KP Chinas belehren zu müssen. Kritisches Herangehen ist etwas anderes, es verlangt die sachliche Auseinandersetzung Argument gegen Argument. Ich vermisse generell im Buch, daß der attackierten Seite die Möglichkeit gewährt wird, sich und ihre Politik darzustellen. Es ist richtig, die Veröffentlichung nebst beigefügter CD bietet dem Leser eine Fülle detaillierter Angaben und Berichte über Leben und Geschehnisse in China. Die Frage ist jedoch, wie die Autorin mit ihnen umgeht.

Einerseits werden z. B. die statistischen Zahlen zu wenig eingesetzt, um ein sachliches Bild über die Entwicklung der Volksrepublik zu zeichnen. Andererseits werden anscheinend bedenkenlos Berichte großbürgerlicher Medien bzw. wissenschaftliche Untersuchungen von Autoren mit einer distanzierten oder antisozialistischen Haltung gegenüber China bedenkenlos wiedergegeben, um die chinesische Entwicklung einseitig in abschreckender Weise zu zeigen. Im Buch ist auch eine der hinterhältigen bürgerlichen Verfälschungen Deng Xiaopings nachgedruckt. So beginnt Dillmann das erste Kapitel des zweiten Teils ihres Buches, obwohl sie angibt, die entsprechende Originalquelle ausgewertet zu haben, mit der Behauptung, Deng Xiaoping habe 1978 mit seiner »neuen revolutionären Linie« »Bereichert Euch!« die kapitalistische Entwicklung der Volksrepublik eingeleitet (S. 182). Die Wahrheit ist, daß Deng vorgeschlagen hatte, »einem Teil der Regionen, der Unternehmen und der Arbeiter und Bauern zu erlauben, als erste durch Fleiß, Anstrengungen und große Leistungen ein etwas größeres Einkommen als andere zu haben«, um damit den anderen ein Vorbild zu geben (zitiert nach der gleichen Quelle: AS Deng Xiaopings 1975-1982, Peking 1983, chines., S. 142). Mitunter kommen auch Zweifel auf, ob die Autorin die angegebenen Quellen tatsächlich im Original gelesen hat. Unter Berufung auf Marx (»Marx 1857/58: 377«) formuliert sie, die chinesische Gesellschaft vor den Opiumkriegen, d. h. vor 1840, sei durch die »ostasiatische Produktionsweise« geprägt gewesen (S. 15). Zum einen sprach Marx von einer asiatischen Produktionsweise, zum anderen ist die von der Autorin in diesem Zusammenhang vorgenommene Einschätzung wissenschaftlich längst widerlegt.

Die eigentlichen Probleme dieser Veröffentlichung sind für mich jedoch andere. Ich sehe sie vor allem im wissenschaftlich-methodischen Herangehen an die Untersuchung, in den benutzten Kriterien für die Einschätzung der chinesischen Entwicklung der letzten 60 Jahre und in der Wertung des Verhältnisses zwischen dieser Volksrepublik und dem internationalen Imperialismus.

Reale Bedingungen ausgeblendet

Die erste Aufgabe, die sich in einer solchen Arbeit stellt, ist aus meiner Erfahrung, sich über den Charakter und den Entwicklungsstand der Gesellschaft Klarheit zu verschaffen, die den Ausgangspunkt für die zu untersuchenden gesellschaftlichen Prozesse markiert. Hier stoßen wir bereits auf die erste fundamentale Schwäche in der Arbeit von Dillmann. Die Diskussionen über das Grundmodell des frühen Sozialismus haben uns doch wieder eine alte Wahrheit ins Gedächtnis gerufen: Es kann kein einheitliches Modell des Sozialismus für alle Länder geben. Lenin hatte darauf aufmerksam gemacht, daß jedes Land im Rahmen der allgemeinen Weltgeschichte seine besonderen materiellen und geistigen Gegebenheiten, Traditionen und nationalen Befindlichkeiten aufweist. Daraus ergibt sich auch, daß jedes Volk seinen eigenen konkreten Weg zum Sozialismus bestimmen und beschreiten muß. Wahrscheinlich muß dieser Gedanke noch weiter gedacht werden. Künftig dürfte es nicht nur eine Vielfalt der Wege zum Sozialismus, sondern auch eine Vielfalt in der konkreten Gestaltung des Sozialismus geben. Diese Erkenntnis scheint an Dillmann vorbeigegangen zu sein

Es ist nicht so, daß die Autorin sich in ihrem historischen Vorspann nicht mit der alten chinesischen Gesellschaft befaßt hätte. Sie verweist sogar darauf, man könne sich diese Gesellschaft »gar nicht vor-industriell genug vorstellen« (S. 54) Sie führt diese Einsichten aber nicht auf den Punkt. Die Dominanz der alten Ackerbaugesellschaft mit einem Anteil des Proletariats an der erwerbstätigen Bevölkerung von drei bis vier Prozent, mit über 80 Prozent Analphabeten und dem tief verwurzelten Einfluß konfuzianischer Denk- und Verhaltensweisen ist für ihre Einschätzung der Entwicklung nach der Revolution von 1949 offenbar nicht von Bedeutung. Der objektive Zusammenhang zwischen diesen nationalen Gegebenheiten und den sich daraus ergebenden besonderen Erfordernissen für den Übergang Chinas zum Sozialismus existiert für sie nicht.

Das läßt sich erklären. Dillmann ist offenbar der Ansicht, daß die unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten eines Landes für die Einschätzung seines sozialistischen Weges unerheblich sind. Sie teilt nicht die marxistische Erkenntnis, daß es für den Sozialismus »zivilisatorischer Voraussetzungen« bedarf, daß es z. B. für den Übergang aus vorkapitalistischen Verhältnissen zum Sozialismus unumgänglich ist, sich zunächst einmal den materiellen und geistigen Fortschritt der Menschheit im Kapitalismus zusammen mit seinen Erfahrungen, die »bürgerliche Kultur«, anzueignen. Im Gegenteil, sie erachtet es vielmehr für notwendig, alle kapitalistischen Elemente und solche, die sie dafür hält wie Warenproduktion, Wertgesetz, Preis, Gewinn, Lohn und materielle Interessiertheit zusammen mit Eigentum und Staat umgehend abzuschaffen. Das ist für sie konsequenter Sozialismus in Theorie und Praxis, der bei ihr auch seine eigenen Wortschöpfungen wie »staatsidealistischer Sozialismus« oder »Werteproduktion« findet. Losgelöst von den objektiven ökonomischen Bedingungen kann sich Dillmann zum Beispiel gar nicht genug über die angebliche, dem Kapitalismus vergleichbare »Lohnsklaverei« im Sozialismus auslassen. Dieses ideologisch geprägte Konstrukt ist das Kriterium, mit dem sie die ersten 30 Jahre Entwicklung in der Volksrepublik China mißt.

Für Mao Tse-tung war die neudemokratische Gesellschaft, bevor er ihre Entwicklung 1953 abbrach, angesichts der Rückständigkeit des Landes eine unumgängliche Entwicklungsetappe, die der sozialistischen Revolution vorausgehen mußte. In dieser Etappe sollte bei Wahrung der sozialistischen Perspektive mit Hilfe der Bourgeoisie das Land industrialisiert werden. Dillmann glaubt jedoch, in der Bodenreform und im Umgang der KP Chinas mit der Bourgeoisie in der neudemokratischen Gesellschaft ansatzweise schon eine »antikapitalistische Inkonsequenz« in der Sozialismusvorstellung der chinesischen Kommunisten sehen zu müssen. Die mit der neudemokratischen Politik verfolgte »Entfaltung der Produktivkräfte« hätte die »Kapitalverwertung« zum Zweck gehabt, ohne daß die Folgen für den unmittelbaren Produzenten, den Arbeiter, interessiert hätten (S. 66). Einige Seiten zuvor hatte sie das Gegenteil konstatiert (S. 55). Widersprüchlichen Aussagen dieser Art begegnet der Leser ziemlich oft. Die Unsicherheit bei der Betrachtung der neuen Demokratie ist nicht zu überblicken. Sie sieht z. B. die »alte herrschende Klasse«, das wären die alten Großgrundbesitzer und die Guomindang-Spitze, in den neudemokratischen Aufbauprozeß eingeklinkt. Richtig müßte es heißen »die nationale Bourgeoisie«; denn diese wies für die Entwicklung Chinas noch progressives Potential auf. Schwierigkeiten hat die Autorin auch zu unterscheiden, wann die Phase der neuen Demokratie endet und der Übergang zum Sozialismus einsetzt, welche Ereignisse und Erscheinungen in welchen dieser beiden Abschnitte einzuordnen sind.

Politischer Voluntarismus

Dillmann wirft der KP Chinas vor, von dem »hoffnungsvollen Projekt eines roten China« abgewichen zu sein, weil sie »Eigentum und Staat« letztlich nicht beseitigt habe. Hier nun besteht für mich kaum ein Unterschied zu dem von ihr selbst kritisierten politischen Voluntarismus Mao Tse-tungs in der Zeit des »großen Sprungs nach vorn« und der Volkskommunen. Die konstruktive Seite, wie denn nun der Sozialismus in China konkret hätte gestaltet werden sollen, bleibt sie dem Leser bis auf diese Allgemeinplätze schuldig. Die Besonderheiten des »chinesischen Sozialismus« sind für sie die Massenkampagnen zur Ausprägung des »revolutionär vereinnahmten Willens« der bäuerlichen Massen, die Volkskommunen zur Nutzung der einfachen Kooperation der Bauern und das »dezentrale Prinzip der chinesischen Ökonomie«. Diese Faktoren machen für sie das Programm aus, zu dem die »Ideen des großen Vorsitzenden« das »passende Konglomerat an Moral und Dummheit« bilden würden (S. 176-177). An anderer Stelle sieht sie die Mission der Volkskommunen in der Verwirklichung der Generallinie und des »großen Sprungs nach vorn« auf dem Lande (S. 112). Die Volkskommune wurde jedoch nicht zufällig landesweit, das heißt auch in den Städten, gebildet; denn Mao sah in ihr die militärisch organisierte Grundeinheit der Gesellschaft, die, ausgestattet mit ökonomischen, politischen und staatlich-administrativen Funktionen die »goldene Brücke« zum Kommunismus und die Basisorganisation der kommunistischen Gesellschaft sein sollte. Diese Seite und der damit verbundene egalitäre bäuerliche Sozialismus à la Mao Tse-tung werden von der Autorin nicht explizit herausgearbeitet. Abschließend bleibt zu dieser Thematik festzustellen, daß auch Mitte der 1970er Jahre in der Volksrepublik China noch keine sozialistische Gesellschaft ausgebildet war. Im Gegenteil, der unter Führung Mao Tse-tungs eingeleitete Versuch war gescheitert. Die KP China sah sich gezwungen, einen neuen Weg zu suchen.

Sozialismus und Nation

Ein zentrales Anliegen der Autorin ist bereits im ersten Teil des Buches nachzuweisen, daß die chinesischen Kommunisten schon immer das Erstarken der Nation über die Verwirklichung des Kommunismus gesetzt hätten. Auf diese Weise wird sie dann auch den Übergang der Partei ab 1978 zum »Kapitalismus« begründen. Für sie sind »Befreiung der Nation« und »Befreiung der unterdrückten Klassen« zwei Aspekte, »die nichts miteinander zu tun haben, ja sogar einen regelrechten Widerspruch beinhalten: Kommunismus und Nationalismus« (S. 34/35). Kommunismus bedeute Zusammenschluß zu gemeinschaftlicher Produktion zum Nutzen aller. Nation hingegen wird im Buch als Unterwerfung aller unter eine »herrschaftliche Gewalt« definiert. Dillmann überträgt damit das von ihr herausgearbeitete Wesen der Nation im Kapitalismus auf den Sozialismus. Nation im Sozialismus ist für sie unvereinbar mit der »kommunistischen Gemeinschaft«, der die Mitglieder im Unterschied zur Nation freiwillig angehören würden, deren Zweck in einer geplanten Wirtschaft bestehe, in der die Mitglieder über die Umsetzung ihrer Interessen abstimmen würden und es keinen höheren Wert als das Wohlergehen ihrer Mitglieder gäbe (S.37). Für mich erstaunlich ist, daß eine promovierte Akademikerin, die sich zum Marxismus bekennt, nicht wissen will, daß sich mit der sozialistischen Revolution auch der bisherige bürgerliche Klassencharakter der Nation ändert und sich eine vom Sozialismus geprägte Nation in ihrer historischen inneren und äußeren Funktion herausbildet. Natürlich spielt der Begriff der Nation im heutigen China eine überragende Rolle. Das drückt sich in dem Ziel der KP Chinas aus, eine »Renaissance der chinesischen Nation« anzustreben. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich auch der Wille, sich als Volk nie wieder unterdrücken, ausbeuten und diskriminieren zu lassen. Ein tragender Gedanke in China, dem die Autorin bisher nicht begegnet zu sein scheint. Ungeachtet dessen ist es für mich unredlich, nicht zu erwähnen, daß die KP China diese nationale Renaissance auf der Grundlage der Erkenntnis Mao Tse-tungs verfolgt, daß allein der Sozialismus China retten kann. Ich sehe im Programm und in der Strategie der chinesischen Partei keinen Widerspruch, sondern vielmehr einen dialektischen Zusammenhang zwischen sozialistischem Weg und Entwicklung der chinesischen Nation. Entwicklung der Nation ist hier in gewisser Weise ein Synonym für die Stärkung des Gesamtpoten­tials des Landes zur Sicherung der Existenz und der Abwehr von Versuchen vor allem des US-Imperialismus, China zu »verwestlichen«. Unter diesen Umständen ist die Stärkung des Landes objektiv Voraussetzung und Bedingung für die Absicherung des sozialistischen Weges.

Entwicklung der Produktivkräfte

Diese Problematik führt uns zum zweiten Teil des Buches. Dillmann stellt hier zwei grundlegende Behauptungen auf: Erstens, die KP China hat im Interesse der »Nation« 1978 den Übergang des Landes zum gewöhnlichen Kapitalismus eingeleitet. Zweitens, zwischen diesem kapitalistischen China und den USA als führender Macht der westlichen Welt gibt es keinen Klassenwiderspruch, sondern nur den Widerspruch zwischen zwei imperialistischen Konkurrenten. Damit läßt Dillmann, die sich - ich wiederhole - als Marxistin bezeichnet, sogar noch die herrschende politische Klasse in Washington und Berlin hinter sich. Sie versieht, obwohl sie es zweifellos nicht will, damit objektiv das politische Geschäft des deutschen Imperialismus.

Dem Leser wird erklärt, daß die »sozialistische Großmacht China« angeblich keinen Grund gehabt hätte, den »Kommunismus« aufzugeben und zum Kapitalismus überzugehen. Dillmann setzt damit die Nutzung des Kapitals durch eine KP für den historischen Fortschritt ihres Landes mit dem gewöhnlichen, westlichen Kapitalismus gleich. Die Ursachen für diesen Strategiewechsel werden nicht einmal erwähnt. Der Versuch, einen bäuerlich-egalitären Sozialismus zu praktizieren und die folgende »Kulturrevolution« hatten China in seiner Entwicklung erheblich zurückgeworfen. Die Autorin übergeht auch die damaligen scharfen Auseinandersetzungen in der Partei um die Überwindung der »kulturrevolutionären« Ideologie und Politik, die »Befreiung des Denkens« und die Neubestimmung der nationalen Gegebenheiten unter dem Gesichtspunkt einer Art »Neuer Ökonomischer Politik chinesischer Prägung«. Unter Führung der KP Chinas wurde dann ein Weg beschritten, auf dem sich vor allem die Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigen ließ. Hauptkomponenten dieses Weges wurden die Wiederherstellung der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter und Entwicklungsstand der nach wie vor rückständigen Produktivkräfte (vielschichtige Eigentumsstruktur), zunächst die Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft, die entsprechenden Veränderungen im System der Wirtschaftsleitung unter Beachtung der Interessen von Staat, Unternehmen und Werktätigen, die Öffnung des Landes (auch nach innen verstanden als Beseitigung der Hindernisse für die Herstellung eines einheitlichen nationalen Marktes) und Nutzung des Kapitals zur Überwindung der Rückständigkeit und für die Modernisierung des Landes auf höchstem zeitgenössischen Niveau. Dillmann erkennt zumindest an, daß die KP Chinas diesen gesamten Prozeß von Anfang an diktierte und fest in der Hand hatte. Die erheblichen Veränderungen auf diesem Wege, die 1990-92 und dann wieder nach 2002 von der Partei vorgenommen wurden bzw. werden mußten, bleiben dem Leser verschlossen. Nach der tiefgreifenden Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses durch den Untergang des frühen Sozialismus und der damit verbundenen Staatengemeinschaft hatte die Volksrepublik zwei Möglichkeiten: entweder sich nur sehr bedingt gegenüber der kapitalistischen Weltwirtschaft zu öffnen, dann wäre das Ende auch der Volksrepublik nur eine Frage der Zeit gewesen, oder sich zu entschließen, das Wagnis einzugehen, bei Wahrung der nationalen Selbständigkeit innerhalb der kapitalistischen Weltordnung zu agieren und alle sich dabei bietenden Möglichkeiten für die Stärkung des Landes mit langfristiger sozialistischer Perspektive zu nutzen. Die KP Chinas entschloß sich für die zweite Möglichkeit, die mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) umfassend wahrgenommen wurde. Über die strategischen Berichtigungen, die unter der neuen Führung Hu Jintao/Wen Jiabao um 2004 begonnen worden sind, erfährt der Leser erst gar nichts. Mit der Lösung der seit Mitte der 1990er Jahre aufgekommenen ernsten gesellschaftlichen Widersprüche haben diese Maßnahmen eine neue strategische Phase der Politik der KP Chinas auf ökonomischem, sozialem, ökologischem und außenpolitischem Gebiet sowie hinsichtlich der Demokratisierung in Partei und Staat eingeleitet. Das betrifft beispielsweise Schritte zu einer effektiveren Bekämpfung von Amtsmißbrauch, zur Offenlegung der familiären Eigentums- und Einkommensverhältnisse der Kader und ein angestrebtes produktives Zusammenwirken von Staat und Bürger bzw. sich entwickelnder Bürgerbewegung. Entwicklungen dieser Art eignen sich natürlich nicht als Beweis für die angebliche Herrschaft der Bourgeoisie in China. Dillmann bleibt deshalb auch bei der allgemeinen Formulierung der Herrschaft einer »politischen Klasse« in der Volksrepublik, die nach innen den gewöhnlichen Kapitalismus kultiviere und nach außen eine Politik betreibe, die dem »Lehrbuch Imperialismus« entnommen sein könnte (S. 347).

Hier beginnt die Darstellung im Buch, geradezu abenteuerlich zu werden. Sie, die »chinesischen Politiker«, nutzen »die wachsenden ökonomischen Mittel, über die sie inzwischen verfügen, wie die Abhängigkeiten, die sich für andere Staaten in aller Welt aus dem Geschäft mit China bereits eingestellt haben, zielstrebig dafür aus, sich ebenso wie und gegen die etablierten kapitalistischen Großmächte ökonomische 'Besitzstände' auf- und auszubauen sowie politische Kooperationen auf den Weg zu bringen bzw. zu intensivieren, die sich perspektivisch - und auf der Basis einer gesteigerten chinesischen Militärmacht, welche für die fälligen Schutzversprechen wie Erpressungsmanöver auch materiell einstehen kann - zu wertvollen Positionen in der strategischen Machtkonkurrenz ausgestalten lassen« (S. 347 - Syntax im Original, H. P.). Ein wahres Satzungetüm. Abermals unterläßt es die Autorin, der chinesischen Führung die Möglichkeit zu geben, den Leser mit den Grundprinzipien und -gedanken ihrer neuen Außenpolitik vertraut zu machen. Sie kommt allerdings nicht umhin zuzugeben, daß diese Außenpolitik ihre Anziehungskraft insbesondere auf die Länder nicht verfehlt, die sich aus der Abhängigkeit von den USA zu befreien suchen. Die Ursache dieser Anziehungskraft ist im Charakter der »neuen Außenpolitik« Pekings zu suchen. Sie wird nämlich getragen vom Geist der Zusammenarbeit auf der Basis der gegenseitigen Respektierung, der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und des gegenseitigen Nutzens, verbunden mit der Lösung von Widersprüchen durch den Dialog. Das macht die eigentliche Stärke der heutigen chinesischen Außenpolitik und ihren grundlegenden Unterschied gegenüber der des Imperialismus aus.

US-Eindämmungspolitik

Für Dillmann existiert kein grundlegender gesellschaftlicher Widerspruch zwischen der Volksrepublik China und den imperialistischen Mächten. Wieder stellt sich die Frage, weshalb eine Autorin, die sich so intensiv mit China und der westlichen Welt zu befassen scheint, dieser Frage nicht ausreichend nachgeht. Dokumente, die darüber Auskunft geben, liegen doch vor. So kann in der »National Security Strategy« der USA, die Präsident George W. Bush am 1.Juni 2002 unterzeichnet hatte (siehe: The New York Times, September 20, 2002), das Ziel der China-Politik der USA nachgelesen werden: Beseitigung der kommunistischen Regierung in Peking und Rückführung Chinas in die »westliche Wertegemeinschaft«. Es sollte durch eine Eindämmungspolitik, durch politischen Mißbrauch der Menschenrechte und Unterstützung separatistischer Kräfte erreicht werden. Präsident Obama mußte nach seinem Amtsantritt eingestehen, daß sich trotz amerikanischer Eindämmungspolitik ein schneller Aufstieg Chinas in der Weltpolitik vollzogen hat. Obamas China-Besuch (12. bis 19.November 2009) offenbarte, daß er die Politik seines Vorgängers im Amt in abgewandelter Form fortzusetzen gedenkt. An die Stelle der Eindämmungspolitik wollen die USA jetzt, anknüpfend an handfeste Interessen Chinas, Peking fest in die »anteilige Verantwortung« für die Lösung von globalen und bilateralen Problemen einbinden, natürlich nach amerikanischem Muster. Auch in dieser Beziehung war der Dialog zwischen beiden Staatsoberhäuptern während des Besuchs von Obama aufschlußreich. Vorsitzender Hu Jintao hatte darauf verwiesen, daß die nationalen Gegebenheiten (guoqing) der beiden Länder China und USA, im chinesischen Verständnis vor allem der Charakter ihrer Gesellschaftsordnungen, verschieden seien und die chinesische Seite erwarte, daß die sich daraus für China ableitenden »Kerninteressen und hauptsächlichen Besorgnisse« von der anderen Seite respektiert und berücksichtigt werden. Obama antwortete darauf, indem er lediglich anerkannte, daß »unsere künftigen Beziehungen nicht vollständig frei von irgendwelchen Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten sein werden« (zit. n. Internetausgabe der zentralen Volkszeitung der KP Chinas Renmin Wang v. 17.11.09). Beobachter sehen wohl nicht zuletzt auf diesem Hintergrund die Ergebnisse des Obama-Besuchs als eine »Vertiefung der getarnten strategischen Konfrontation« zwischen China und den USA an (Zeitschrift Zheng Ming, Xianggang, 2009/12, S. 30)

Die chinesische Seite hat die Haltung Obamas wohl begriffen. Sie geht anscheinend davon aus, daß sich mit zunehmender Kooperation die ideologisch-politischen Auseinandersetzungen um die Gesellschaftsordnung verschärfen werden. In dieser Hinsicht haben sich nach dem Besuch unter anderem das Mitglied des Politibüros, Sekretär und Leiter der Abteilung Organisation des ZK der KP Chinas, Li Yuanchao, und der Assistent des Vorsitzenden des Autonomen Gebiets der Inneren Mongolei und Leiter des Amts für Öffentliche Sicherheit dieses Gebiets, Chao Liping, unmißverständlich geäußert (Renmin Wang v. 1.12 u. 4.12.2009). Wenn diese Meldungen der Autorin auch noch nicht bekannt gewesen sein können, so müßte sie doch den Beschluß der CDU/CSU-Bundestagsfraktion »Asien als strategische Herausforderung und Chance für Deutschland und Europa« vom 23. Oktober 2007 kennen. Darin ist zu lesen, daß China » dem Westen in zunehmenden Maße die Systemfrage (stellt) und (ihn)...als alternatives politisches Ordnungsmodell....herausfordert«. Weshalb ignoriert Dillmann eine solche Positionierung von Vertretern der politischen Klasse im eigenen Land? Ob sie es will oder nicht, eine solche selektive Nutzung des Quellenmaterials bestärkt die Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.

Ich fasse zusammen: Dillmanns Buch ist in der Tat ein »Lehrstück«, leider jedoch in einem anderen als von der Autorin gedachten Sinne. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Autor den Weg zu wissenschaftlichen Ergebnissen selbst verbauen kann.

Von Helmut Peters erschien zuletzt:
»Die VR China - Aus dem Mittelalter in den Sozialismus: Auf der Suche nach der Furt«, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, 580 Seiten, 19,80 Euro

* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2009


Zurück zur China-Seite

Zurück zur Homepage