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Ami gut, Chinese böse

Beim Streit zwischen Japan und China geht es um mehr als ein paar unbewohnte Inseln

Von Volker Bräutigam *

Die Massenmedien, voran ARD und ZDF, manipulieren, dass es einem den Atem verschlägt. Man könne „ ... sich einfach nicht vorstellen, dass derart rotzfrech gelogen wird“, schreibt Willy Wahl, Herausgeber der Zürcher Internetseite Seniora. Recht hat er. So wird selbst über Konflikte im Pazifik noch aus dem Blickwinkel US-höriger Atlantiker berichtet. Aktuelles Beispiel: Sorgten unsere Freunde, die USA, nicht für Ruhe im Streit um eine Mikro-Inselgruppe im Ostchinesischen Meer, dann gingen sich Chinesen und Japaner längst an die Gurgel. Bei den Inseln werde nämlich Erdöl vermutet.

Die Vermutung der UN-Wirtschaftskommission für Asien und Fernost, (UN Economic Commission for Asia and the Far East, ECAFE) ist allerdings nicht neu, sondern seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt. Der Streit um das Gebiet wurde erst gefährlich, seit zur Jahrtausendwende die US-Energiebehörde (Energy Information Administration, EIA) das Gesamtvorkommen – sechs verschiedene Lager unter dem Meeresboden sind bereits erfasst – auf bis zu 16 Milliarden Tonnen Öl und 32 Milliarden Tonnen Gas schätzte, die zehntgrößte Fundstätte weltweit. Das weckte das Interesse der US-Ölmultis. Schlimmer noch: Wahrscheinlich gibt es in der angrenzenden Tiefsee Edelmetalle und Manganknollen mit hohen Anteilen an Kupfer, Kobalt und Nickel. Was weitere international agierende Konzerne auf den Plan rief.

Der umstrittene, seit 1895 von Japan okkupierte Mini-Archipel liegt 110 Seemeilen nordöstlich von Taiwan. Oder, andersherum, 210 Seemeilen südwestlich von Okinawa. Fünf unbewohnte Inselchen und drei Felsen, insgesamt 7 qkm groß. So unscheinbar, dass die zu Beginn der Neuzeit vorübersegelnden Seefahrer aus Portugal und später Holland sie auf ihren Karten nur namenlos verzeichneten. Sind es nun (chinesisch) die Diàoyú-tái, oder (japanisch) die Senkaku-shotō? Auf einer guten Weltkarte findet man sie unter 123°30’27“ östlicher Länge und 25°44’25“ nördlicher Breite. Die Suche nach ihrem rechtmäßigen Eigentümer ist nicht ganz so einfach.

ARD und ZDF berichteten unter Verzicht auf Hintergrunddaten, Japan wolle die Eilande ihren privaten Besitzern (?) abkaufen. Das nutze die Regierung in Peking, um von parteiinternen Querelen im Vorfeld des Nationalen Volkskongresses abzulenken, indem sie die Inseln für sich reklamiere und nationalistischen Massendemonstrationen gegen Japan Vorschub leiste. Washington habe vor einer Eskalation gewarnt. So simpel, so platt werden TV-Nachrichten, wenn Redaktionen nur einfach Agenturtexte verwursten und 90 Sekunden Korrespondentenbericht dranhängen.

Schön, die US-Regierung hat „vor Eskalation gewarnt“. Jede halbwegs kritische Nachprüfung vor Ort hätte die Verlogenheit dieser Inszenierung sofort sichtbar gemacht. Beispiel: Die US-Marine hatte kurz vor den Ankündigungen Tokios die beiden Flugzeugträger „Eisenhower“ und „Stennis“ sowie amphibische Kampftruppen in das Gebiet entsandt. Wir haben es selbstverständlich nicht nur mit der fernöstlichen Variante eines lokalen Grenzkonflikts zu tun. Auch geht es bei den umstrittenen Inseln nicht allein um reiche Rohstofflager. Sondern um weit mehr: Die USA kreisen China und Russland militärisch ein. Washington kaschiert zugleich seine Jahrzehnte zurückliegenden Vertragsbrüche im Westpazifik.

US-Schirm über einem Vertragsbruch

Erkenntnisfördernd, wenn auch längst nicht mehr journalistische Selbstverständlichkeit, ist ein Blick ins zeitgeschichtliche Archiv. Dank Internet inzwischen eine relativ leichte Übung. Als ich mich vor fast 13 Jahren mit dem Konflikt beschäftigte, musste ich die historischen Daten noch in Bibliotheken und kartographischen Sammlungen zusammensuchen:

„Bis zum Beginn des japanisch-chinesischen Krieges (anno 1894), in dem die Japaner siegten, gehörten die Inseln China. Chinesische Fischer hatten sie vor Jahrhunderten entdeckt. ...“ (V.B. Inseln über dem Öl. In: Ossietzky , 1999/5, S. 152 ff).

Ergänzung: Hinweise auf die Entdeckung sind schon in der Ming-Zeit (1368-1644) dokumentiert. 1372 berichteten chinesische Seeleute zum ersten Mal von ihnen. Spätestens seit 1534 wurden sie auf chinesischen Karten als Teil des Kaiserreichs dargestellt. Weiter in meinem Text von 1999:

„... Seither holten Fischer aus Taiwan aus den kaum 200 Meter tiefen Gewässern um die Tiaoyutais beachtliche Fänge und nutzten die Inseln, um dort Gerät und Ersatzteile zu deponieren. Ich fand nicht nur chinesische, sondern auch japanische Karten aus den Jahren 1873 bis 1879, auf denen die Tiaoyutais eindeutig als zu China gehörig verzeichnet sind. ...

Die westlichen Alliierten hatten zwar bereits 1943 (Deklaration von Kairo) beschlossen, dass Japan nach seiner Niederlage sämtliche unrechtmäßigen Besitzungen an China und die anderen eroberten Länder zurückgeben müsse. Im Potsdamer Abkommen wurde der Beschluss präzisiert. Japan beugte sich in seiner Kapitulationserklärung vom 2. September 1945. Die USA dürften aber bereits 1945 gewusst haben, wie bedeutungsvoll, wirtschaftlich und strategisch, die Tiaoyutais werden würden.

Das amerikanische Hochkommissariat in Okinawa jedenfalls duldete, dass die dortige Provinzregierung die Tiaoyutais unter der Hand in ihre Zuständigkeit einbezog, obwohl das den internationalen Verträgen und der Historie ebenso widersprach wie den geologischen Gegebenheiten. Die Inselgruppe liegt, gemeinsam mit Taiwan, auf dem Grat eines unterseeischen Gebirgszuges vulkanischen Ursprungs. Die Inselkette ist von Japan durch den mehr als 2000 Meter tiefen Okinawa-Graben getrennt. Von Japan sind die Tiaoyutais mehr als 200 Seemeilen entfernt, also viel weiter als von Taiwan. ...“

„... Was schert das alles ... US-amerikanische Ölkonzerne? Und was schert es die übrige Welt? Japanische Kriegsschiffe umringten, nachdem es fast ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gegend ruhig geblieben war, die Tiaoyutais und hissten jetzt dort die Flagge mit der roten Sonne. Chinesische Proteste, aus Taipei ebenso wie aus Peking, blieben unbeachtet. ... Japan behauptet, die Tiaoyutais seien bis in die Gegenwart, seit die japanische Fahne dort flattert, ‚terra nullius’ gewesen. Niemandsland, das dem gehört, der es zuerst beansprucht. Nicht einmal ein leiser Ordnungsruf war dazu aus Washington zu hören, und der einst vom US-Hochkommissar in Okinawa geduldete Übergriff blieb unkorrigiert.“


Soweit der mehr als 12 Jahre alte Text im nicht digital verfügbaren Ossietzky-Jahrgang 1999. Heute patrouillieren erneut japanische Kriegsschiffe bei den Eilanden und vertreiben Fischtrawler aus Taiwan, die zu nahe heranfahren. Auch ein zudringlicher ZDF-Reporter wurde, obwohl an Bord eines japanischen Kutters, am Landgang gehindert, sein Charterboot verscheucht. Die VR China hat nun ebenfalls Kriegsschiffe zu den Inseln in Marsch gesetzt. Eine Flotte von 50 Fischkuttern aus Taiwan ist in Begleitung von zehn Patrouillenbooten bereits bei den Inseln eingetroffen und lässt sich von den japanischen Marineeinheiten nicht mehr beeindrucken. Noch beschießen sich die Kriegsschiffe nur mit Wasserkanonen. Die Feindseligkeit nimmt zu, es kann brenzlig werden.

Derzeit stehen jedoch ökonomische Interessen Japans Okkupationspraxis und seinem militärischen Übereifer entgegen. Die japanische Autoindustrie und der Maschinenbau fürchten, ihre Absatzmärkte in China könnten von Peking mittels Sonderzöllen und Kaufboykott zunichte gemacht werden. Japans Einzelhandel reklamiert, chinesische Ausfuhrzölle könnten den Import günstiger Produkte aus der VRCh ruinieren. Peking zeigte sich Anfang Oktober tatsächlich zum Wirtschaftskrieg bereit und boykottierte das Jahrestreffen der Welthandelsorganisation WTO. Tokio und Washington müssen es schlucken: Wirtschaftlich sitzen die Chinesen am längeren Hebel.

Illegales Vertragswerk

Zur präzisierenden Ergänzung meiner Skizze aus dem Jahr 1999: Nach dem Sieg über China (April 1895) führte Japan ein grausames Kolonialregime. Ganze Landstriche kamen gewaltsam in den Besitz japanischer Privatleute. So auch die heute umstrittenen Inseln. Um 1900 etablierte der Unternehmer Tatsushiro Koga dort einen Fischverarbeitungsbetrieb. 1940 ging das Unternehmen pleite, trotz reicher Fänge an Bonitos, einer Thunfischart. Seitdem wohnt dort niemand mehr.

1970 verkauften Kogas Nachfahren vier der Eilande an andere japanische Privatinteressenten. Die Besitzwechsel sowie die Pachtverträge zwischen japanischen Privatleuten und ihrer Regierung, aktuell der am 11. September 2012 von der Regierung in Tokio vollzogene „Rückkauf“ von drei der Inseln (für rund 2 Mio. US-Dollar), beruhen auf einem von den USA begangenen Rechtsbruch: Als habe es das völkerrechtlich besiegelte Potsdamer Abkommen und die japanische Kapitulationsurkunde nie gegeben, übertrug Washington 1971 einseitig die Hoheitsrechte über die Inseln an Japan – und dies im selben Vertrag, der das wirklich japanische Okinawa an Japan zurückerstattete (Okinawa Reversion Treaty). Tokio konnte also mit US-amerikanischem Segen einen Rest seiner einstigen Kriegsbeute in China neuerlich kontrollieren.

Dem völkerrechtlich äußerst fragwürdigen Akt liegt zwar der Friedensvertrag von San Francisco vom 8. September 1951 zugrunde, mit dem Japan seine volle Souveränität zurückerhielt. In diesem Vertrag sind jedoch die Territorien, zu deren Rückgabe sich Japan mit seiner Kapitulation verpflichtet hatte, teils gar nicht erwähnt, teils unpräzise bezeichnet. Mit der Konsequenz, dass noch heute z.B. über die Kurilen-Inseln gestritten wird. Den konfligenten Vertrag von San Francisco haben außerdem wichtige Weltkriegsteilnehmer nicht unterzeichnet, insbesondere die Volksrepublik China, die Sowjetunion und Indien. Russland, Nachfolger der Sowjetunion, verweigert die Anerkennung bis heute. Der damalige chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai veröffentlichte eine Erklärung, in der er den Vertrag als illegal brandmarkte. Weitere Pazifikstaaten legten Widerspruch ein, allen voran die Regierung der „Republik China“ (Taiwan), die seinerzeit noch international anerkannt und Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war, wo sie ganz China vertrat.

Konkret änderte sich jahrzehntelang nichts. Chinesische Fischer (zumeist aus Taiwan) nutzten die unbewohnten Inseln als Zwischendepot. Gelegentlich kamen kleine japanische Marineeinheiten vorbei, zogen an Land Japans Flagge auf und verjagten taiwanische Seeleute. Taipeis Proteste wurden weltweit geflissentlich überhört.

Basis für US-Raketen

2002 aber pachtete das Innenministerium in Tokio drei der in japanischem Privatbesitz befindlichen Inseln für jährlich 250 000 US-Dollar. Japans Verteidigungsministerium sicherte sich die vierte (Kuba-shima) und überließ sie sogleich den USA – natürlich zu „Verteidigungszwecken“. Die US-Air Force nutzt sie als Übungsgelände für Bombenabwürfe. Selbstredend sind die Inseln auch als Basis für elektronische Überwachungsanlagen geeignet, mit denen das US-Militär Teile der VR China und Russlands ausspioniert.

Und welch ein Zufall: Die USA und Japan vereinbarten im September, zeitgleich mit dem Insel-„Rückkauf“, den Aufbau eines weiteren Raketenschirms in der Region. Vorgeblich zum Schutz vor Angriffen aus Nordkorea. Tatsächlich entsteht da aber ein neues, gegen China gerichtetes US-Radarsystem, gekoppelt an ein Arsenal landgestützter Raketen. Nicht Schutz, sondern Drohpotential. Es stellt zugleich sicher, dass Taiwan seine vorsichtige Annäherung an Peking nicht übertreibt.

Der von Washington unter Rechtsbrüchen ermöglichte und militärisch abgesicherte Status quo ist auf friedliche Weise anscheinend nicht mehr zu ändern. Obwohl die Inseln im 200-Seemeilen-Bereich Taiwans (das vorläufig mit Peking am gleichen Strang zieht) liegen und damit nach Internationalem Seerecht zur chinesischen Wirtschaftszone gehören. Über den – nach umfassender Abwägung – chinesischen Diàoyú-tái Inseln wehen die Flaggen Japans und der USA. Nicht mehr friedliche Symbole ihrer Völker, sondern Machtdemonstration jener Eliten, die in beiden Ländern jeweils das Sagen haben.

In Taiwan, dem von Washingtons Gnaden abhängigen Inselstaat ohne internationale Anerkennung, richten sich die öffentlichen Proteste natürlich nicht gegen die USA, sondern gegen den einstigen und neuerlichen Besatzer Japan. Die Demonstrationen in Peking hingegen haben mehr als nur nationalistische Beweggründe. Sie sind ein entschiedener Protest gegen die USA und die Reaktion darauf, dass der westliche Imperialismus auch im Ostchinesischen Meer einmal mehr seine Fratze zeigt.

* Vorstehender Artikel erschien - mit kleinen textlichen Abweichungen - in der Zweiwochenschrift OSSIETZKY, in der Zeitschrift "Hintergrund" sowie zuletzt in der Wochenzeitung unsere zeit (16.11.2012).


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