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Liegt "Sarajevo 2014" im Pazifik?

Von Fred Schmid *

Man fühlt sich dieser Tage an die Kalte-Kriegs-Berichterstattung vergangener Jahrzehnte erinnert. Nur ist in den bürgerlichen Medien diesmal China der „Aggressor“, „Provokateur“ - die neue „Bedrohung“ und „Gefahr aus dem Osten“. Was war geschehen? China verkündete einen Anspruch, den Japan sich längst angemaßt hat: die Errichtung einer Luftverteidigungszone, die die umstrittenen Diaoyu-Inseln (japanisch Senkaku-Inseln) einschließt. „Luftverteidigungszone “ ist dabei nicht gleichbedeutend mit hoheitlichem Luftraum, sondern bedeutet, dass die Zone durchquerende Flugzeuge sich identifizieren müssen. Gleiches Recht für alle, denkt man. Doch die USA und Japan halten sich offenbar für Staaten, die gleicher sind. Japan reagierte mit der Entsendung von Kampfflugzeigen in die Zone, die USA provozierten mit zwei B-52-Langstrecken-Atombombern, die sie vom Stützpunkt Guam durch die Zone und zurück schickten. Alles natürlich ohne Anmeldung bei der chinesischen Flugüberwachung.

China war jetzt mit der Flugverbotszone der japanischen aus dem Jahr 1969 gleichgezogen, nachdem Japan den Streit um die Inselgruppe in den vergangenen Monaten eskaliert hatte. Chinesische Fischer wurden aufgebracht und festgenommen, ihre Boote beschlagnahmt; vor einem Jahr wurde eine chinesische Propellermaschine, die über die Inseln flog gleich von acht japanischen F-15-Kampffliegern abgedrängt. In Zukunft würde scharf geschossen, ließ Japan verlauten.

Der entscheidende Auslöser des derzeitigen Inselkampfes war jedoch der Willkürakt Japans, als es im Sommer 2012 das jahrzehntelang währende gegenseitige Einverständnis aufkündigte, den Streit um die Besitzrechte bis auf Weiteres ruhen zu lassen. Die japanische Regierung „kaufte“ 2012 die Inseln von einem japanischen Geschäftsmann, der keinerlei Befugnis zum Verkauf hatte. Diese Nationalisierung bedeutete, dass die acht Felseninseln damit japanischem Hoheitsgebiet einverleibt wurden. Damit maßte sich die japanische Regierung an, ein Stück des Territoriums Chinas zu besetzen und das Land wie im japanisch-chinesischen Krieg 1894/95 zu demütigen. Damals hatte die aufstrebende imperialistische Macht Japan 1895 das chinesische Taiwan samt zugehörigen Diaoyu-Inseln als Kolonialbeute annektiert. Es war eine weitere Eskalationsstufe in der 120 Jahre dauernden Demütigung Chinas durch europäische Großmächte und Japans. Vor dieser Annexion übte China über 500 Jahre unangefochten das Hoheitsrecht über die Inselgruppe aus. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg hatten die USA die acht Eilande okkupiert, allerdings 1971 an Japan ausgeliefert. China hatte damals die Übertragung als Verstoß gegen das Völkerrecht und als ungültig tituliert, hatte aber keine Chance zu einer Durchsetzung seines Standpunkts gesehen. Anschließend hatte man die oben geschilderte pragmatische Lösung gefunden, bis Japan jetzt den status quo einseitig aufkündigte.

Kampf um Hegemonie im Pazifik

Nach Ansicht Japans gehören die Inseln zu Japan. Sie seien „herrenlose Gebiete“ gewesen, bis der Japaner Koga Tatsushiro sie im Jahr 1884 entdeckte. Im chinesischen Buch „Navigationskunde“ (Shunfeng Xiangsung) aus dem Jahr 1403 finden sich bereits Aufzeichnungen über die Inselgruppe und bereits mit der „Diaoyu-Inseln“. Die früheste japanische Aufzeichnung stammt immerhin schon aus dem Jahr 1785 in Landkarten des Buches „Bildliche Beschreibung dreier Länder“, das vom japanischen Gelehrten Hayashi Shihei verfasst wurde und in denen die chinesische Bezeichnung Diaoyu-Inseln verwendet wurde. Das alles wischt die japanische Regierung arrogant vom Tisch und reklamiert die Inselgruppe für sich. Der rechte japanische Regierungschef Shinzo Abe hat die „Senkakus-Inseln“ schon mit den Falkland-Inseln verglichen, für die er – wie Margret Thatcher 1982 – in den Krieg ziehen würde.

Soviel Säbelrasseln macht deutlich, dass es bei dem Konflikt mit China nicht nur um ein paar karge Felsbrocken im Südchinesischen Meer geht. Auch nicht, wenn darunter Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Die kränkelnde Wirtschafts- und politische Macht Japan, versucht ihren Niedergang und Bedeutungsverlust in Asien mit allen Mitteln aufzuhalten. Mit einer aggressiven Währungs- und Exportpoltik auf Kosten der Nachbarn, versucht es der jahrzehntelangen Stagnation und Deflationsfalle zu entkommen und das Land zu neuer wirtschaftlicher Dynamik zu führen (vgl. isw-report 94, Kapitalismus am Ende?, S. 19). Dazu kommt eine expansive Fiskal- und Geldpolitik, die das Land über die Jahre zu dem am höchsten verschuldeten Industrieland der Welt gemacht haben. Die Staatsverschuldung macht inzwischen 250% des BIP aus (Deutschland 79%, USA 105%).

Doch auch militärisch will Japan seine Rolle in der Region aufwerten. Mit dem Wahlsieg von Shinzo Abe im Frühjahr 2013 und dem Zugewinn der extremen Rechten u.a. als Folge der anhaltenden Wirtschaftskrise, ist eine Renaissance von Nationalismus und japanischem Militarismus zu verzeichnen. „Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wird in Japan Wahlkampf mit dem Thema Aufrüstung gemacht“, berichtet SZ-Korrespondent Christoph Neidhart (30.11.12). Dabei ging es vor allem um die Aufhebung des Paragrafen 9 der Verfassung, der Japan zum Pazifismus verpflichtet und ihm untersagt, Krieg zu führen. Die japanische Armee - „Selbstverteidigungskräfte“ genannt - darf danach nur das japanische Territorium schützen. Dazu würden nach japanischer Auslegung die Diaoyu-Inseln zählen. Auch Japans Industrie macht sich für die Lockerung des Paragrafen 9 stark. Sie beliefert die eigene Armee mit Panzern, Zerstörern, U-Booten, Drohnen und Raketen, Transport- und Kampffluzeugen, darf diese Waffen aber nach der bisherigen Auslegung des Paragrafen 9 nicht exportieren.

In der Außen- und Militärpolitik geht Abe zunehmend in Konfrontation zu China und versucht gegen das Land eine strategische Allianz zu schmieden. In einem englischsprachigen Namensartikel trug er Ende vergangenen Jahres erstmals die Idee eines „demokratischen Sicherheitsdiamanten“ in Asien vor, mit den Kanten Australien, Japan, Indien und im Osten der US-Bundesstaat Hawai.

„No Rivals“

Japans „Politik der Stärke“ erfolgt in vollem Einvernehmen mit den USA. Die Amerikaner drängen Japan seit langem, den einst von ihnen selbst formulierten Pazifismus-Paragrafen 9 zu lockern. Ihr wichtigster Verbündeter in Asien soll mithelfen, China an der weiteren Ausdehnung seiner Einflusssphäre in der Pazifikregion zu hindern. Die Globalmacht USA fühlt sich von Chinas zunehmender ökonomischer Stärke und wachsendem politischen Einfluss in Asien herausgefordert. Zumal die schwächelnde Supermacht im Verlauf der Krise weiter an Kraft verlor, während Chinas ökonomisches Potenzial rasant anwuchs, sich die Kräfteverhältnisse also weiter verschob. Die Strategie Washingtons zielt darauf, ein regionales Bündnis zur Eindämmung des Rivalen Chinas zu schmieden (siehe dazu auch isw-report 83/84, China – Krise als Chance?, S. 63ff). Gemäß dem „No-Rivals“-Plan der USA, den geheimen Leitlinien-Entwurf (Defense Planning Guidance) aus dem Jahr 1992, also nach Beendigung des Ost-West-Konflikts. . Darin erklären die USA ihren festen Entschluss, dass sie den Aufstieg eines strategischen Rivalen, wie etwa früher die Sowjetunion, künftig nicht mehr dulden werden. Es heißt darin unter anderem: „... müssen wir die Mechanismen erhalten, die mögliche Konkurrenten davon abschrecken, eine größere regionale und globale Rolle auch nur anzustreben (aspire)“ Und: „Wir müssen unsere Strategie jetzt darauf konzentrieren, dem Aufstieg jedes möglichen Konkurrenten globaler Dimension zuvorzukommen“. Zum „Strategischen Rivalen“ wurde China von der Bush-Administration herabgestuft, davor galt es als „Strategischer Partner“. Und Obama qualifizierte China im Wahlkampf schon als „Adversary“ (Gegner) – zum „Schurkenstaat“ ist da nicht mehr allzu weit. „Der amerikanische Realismus, den Hillary Clinton und Gates derzeit praktizieren, dient der Paralysierung des Einflusses Chinas in dieser Region“, schreibt die US-Zeitschrift Foreign Policy. Die USA verfahren dabei nach dem auch gegen die Sowjetunion praktizierten Konzept der Eindämmung („Containment“). Dazu dient die Einkreisung mit einer Vielzahl von Militärstützpunkten und mit regionalen Militärbündnissen. Die Diaoyu-Inseln würden diesen Einkreisungsring noch enger und dichter gestalten.

Auch die Ausweitung des Aktionsradius der NATO – beschlossen auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon – zielt in diese Richtung. Dabei sollen u.a. mit den Pazifik-Anrainern Indonesien, Malaysia, Australien und Neuseeland partnerschaftliche Allianzen gebildetund Japan neu in die Zusammenarbeit integriert werden. In seinem Handelsblatt-Artikel (4.1.13) schildert US-Verteidigungsminister Leon Panetta die „militärische Seite der Hinwendung nach Asien“. Priorität habe für ihn „die Modernisierung und Stärkung bestehender Bündnisse und Partnerschaften Amerikas in der Region sowie der Aufbau neuer Verbindungen“. Einen weiteren Schwerpunkt der „amerikanischen Neugewichtung im pazifischen Raum bildet die Machtprojektion“. Bis 2020 sollen 60 Prozent der US-Flotte im Pazifik, weit weg von der US-Küste, stationiert werden. Sechs der elf US-Flugzeugträger navigieren bereits in pazifischen Gewässern. „Diese Neugewichtung (sei) nicht gegen China gerichtet“, versichert der Verteidigungsminister und frühere CIA-Chef treuherzig.

Obamas strategische Ausrichtung und„Hinwendung nach Asien“ zielt zudem auf das enorme wirtschaftliche Potenzial der Region, an dem die USA vor allem in Zukunft teilhaben wollen. So versuchen sie eine Pazifische Freihandelszone unter dem Ausschluss Chinas zustande zu bringen. Direkt nach dem APEC-Gipfel Anfang Oktober 2013 traf sich Außenminister Kerry mit mit den Staats- und Regierungschefs von elf Pazifik-Anrainern zu Verhandlungen über die größte Freihandelszone in dem Raum. Zu dieser Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zählen u.a. die USA, Japan, Australien, Malaysia, Singapur und Vietnam. China war von den Gesprächen ausgeschlossen. Mit dem Handelspakt wollen die USA und Japan die ökonomische Vormachtstellung in der Region erreichen und absichern.

Nimmt man all die Hinwendungen, strategischen Neuausrichtungen und Gewichtungen in Verbindung mit den Provokationen um eine kleine Inselgruppe, dann erscheint es zwar abenteuerlich, aber nicht abwegig, wenn ein früheres Mitglied der Obama-Administration vor dem hundertsten Jahrestag Parallelen zum Beginn des Ersten Weltkriegs zieht.“Ich fürchte ein Sarajevo, Version 21. Jahrhundert!“ erklärte Anne-Marie Slaughter im Hinblick auf den Inselstreit. Slaughter war eine zentrale Figur im Stab von Außenministerin Hillary Clinton, wo sie zwei Jahre lang den Planungsstab des US-Außenministeriums leitete. Niemand in der US-Regierung sah sich genötigt, den düsteren Vergleich zurückzuweisen. Nimmt man die B-52-Provokation und die martialische Äußerung von Abes, dann ist der Vergleich nicht so absurd. Das Attentat von Sarajevo war zwar der Auslöser, aber nicht die Ursache des Ersten Weltkriegs. Es diente den Großmächten als Vorwand, um in den Krieg zu ziehen – um eine Neuaufteilung der Welt und ihrer Märkte.

* Fred Schmid, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung-isw, München


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