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Zehntausende Eingaben

In China steht Machtwechsel bevor. Der Nationale Volkskongreß stellte die Weichen. Hongkong wählte am Sonntag neuen Verwaltungschef

Von Sebastian Carlens *

Hongkong hat einen neuen Verwaltungschef. Die Wahlversammlung der Sonderverwaltungszone kürte am Sonntag mit rund 57 Prozent der Stimmen das frühere Mitglied des Hongkonger Kabinetts Leung Chun Ying. Damit ist in China der Prozeß des anstehenden Machtwechsels eingeleitet worden. Der für Herbst des Jahres geplante Parteitag der Kommunistischen Partei (KPCh) wird die Spitzenpositionen neu verteilen. Sowohl der Präsident der Volksrepublik und KP-Generalsekretär Hu Jintao als auch Premier Wen Jiabao, der zugleich zweiter Mann im ständigen Ausschuß des Politbüros ist, können nach zwei Amtsperioden nicht erneut kandidieren. Damit war die Tagung des Nationalen Volkskongresses vom 4. bis 14. März zugleich der Abschied insbesondere des Premiers, der mit seinem Bericht Rechenschaft über die Tätigkeit der Regierung abzulegen hatte.

Wenn sich das größte Parlament der Welt trifft, wird es auch in einem der größten Gebäude der Welt eng: In der Pekinger »Halle des Volkes« bildeten rund 3000 Delegierte die »Große Versammlung der Volksdelegierten aus dem ganzen Land«, so die wörtliche Übersetzung aus dem Chinesischen. Mit westlichen Parlamenten ist der Kongreß jedoch nicht vergleichbar: Seine Delegierten werden indirekt gewählt; die Provinzen, autonomen Gebiete, regierungsunmittelbaren Städte und Armee-Einheiten des Landes bestimmen die Abgeordneten. Auch Taiwan, von der Volksrepublik als Provinz des Landes betrachtet, ist mit einer Delegation vertreten. Ebenso existiert eine eigene Repräsentation für die in aller Welt lebenden Überseechinesen. Aufgrund seiner schieren Größe findet sich die Mammutversammlung jährlich nur einmal zu einer längeren Sitzungsperiode zusammen. Ein »Pseudoparlament«, wie es in deutschen Medien gerne heißt, ist der Volkskongreß trotzdem nicht. Rund 80000 Eingaben aus der Bevölkerung hatte der Kongreß zu behandeln. So wurde das neue Strafrecht erst nach etlichen Änderungen verabschiedet. Doch China will sich nicht an westlichen Modellen orientieren. »Es gibt für uns keine passenden Vorbilder. Dazu ist China zu einzigartig und zu komplex«, sagte Zhao Qizheng, Sprecher der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes, eines beratenden Gremiums aus der KP und acht kleineren Parteien, die parallel zum Volkskongreß tagte.

Wens Rede vor den Parlamentariern stand im Zeichen des aktuellen zwölften Fünfjahresplans. Die VR China gibt darin keine detaillierten Produktionsziele für einzelne Branchen und Betriebe mehr vor, wie dies zu Maos Zeiten üblich war. Aufgabe der Planungsbehörden ist vielmehr, die Rahmenbedingungen für das weitere Wirtschaftswachstum abzustecken und die Ausgewogenheit der Entwicklung des gesamten Landes zu berücksichtigen. Der zwölfte Fünfjahresplan sieht unter anderem eine Drosselung des Warenexports, eine Senkung des Wirtschaftswachstums und eine Verlagerung der Industrialisierung von der Ostküste in die Zentralprovinzen vor. China habe ein Bruttoinlandsprodukt von 47 Billionen Yuan Renminbi (5,68 Billionen Euro) erreicht, teilte Wen mit. Die aktuellen Wachstumsraten von 7,5 Prozent stufte der Premier auf einer Pressekonferenz nach Abschluß der Parlamentssitzung als planmäßig ein. Allerdings erhöhe die europäische Schuldenkrise den Druck auch auf die chinesische Wirtschaft.

Überschattet wurde die Tagung von Personalfragen. Der Parteichef und Bürgermeister der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing, Bo Xilai, war am 15. März von seinen Ämtern abgesetzt worden. Vorausgegangen war eine Affäre um seinen Stellvertreter, den städtischen Polizeichef Wang Lijun. Dieser hatte sich im Februar in das US-Konsulat der Provinz Sichuan abgesetzt, verließ es aber nach nordamerikanischen Angaben einen Tag später freiwillig wieder. Die Affäre hat nun auch Bo, der als einer der wichtigsten Anwärter auf die frei werdenden Plätze im ständigen Ausschuß des Politbüros galt, eingeholt. In Chongqing, der größten Stadt Chinas, hatte Bo mit Antikorruptionskampagnen von sich reden gemacht. Trotz seiner Absetzung vom Bürgermeisterposten verbleibt Bo im Zentralkomitee und Politbüro der KPCh – erst auf dem Parteitag wird sich entscheiden, ob seine Karriere beendet ist.

* Aus: junge Welt, 26. März 2012


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