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China: Zwischen Reichtum und Armut

Analyse: Boomland mit Risiken

Auf Seite 2 ("Themen des Tages") brachte die Frankfurter Rundschau am 18. Oktober 2004 ein paar Beiträge über die Volksrepublik China. "China boomt und mit dem wirtschaftlichen Erfolg wächst auch der weltpolitische Einfluss der Volksrepublik. Über mangelnden Besuch kann sich die kommunistische Führung nicht beklagen. Deutsche Regierungsvertreter geben sich in Peking die Klinke in die Hand. Dass der Boom viele Risiken birgt, wird allzu leicht übersehen." Ein Riskio ist gesellschaftspolitischer Art: Die Kluft zwischen Reich und Arm wird größer.

Im Folgenden dokumentieren wir den Beitrag von Karl Grobe.


Zwischen Reichtum und Armut

VON KARL GROBE

Im Boomland China gibt es inzwischen 236 000 Dollar-Millionäre. Zugleich steigt die Zahl der Armen. Inzwischen beläuft sich ihre Zahl auf 29 Millionen - die nicht mehr als 70 Euro im Jahr verdienen.


Jeder zehnte Chinese wird in 15 Jahren ein Auto haben, rechnete kürzlich das Pekinger Verkehrsministerium hoch. Das wären dann beiläufig 140 Millionen Benzinkutschen. Nochmal 15 Jahre weiter, dann werden rund 250 Millionen Autos in China rollen oder im Stau stehen.

China ist seit gut einem Jahr der Erdöl-Käufer Nummer zwei, nach den USA, vor Japan. So schnell können die Förderstaaten nicht pumpen wie die Chinesen kaufen wollen. Um mehr als ein Drittel sind die Orders von Jahr zu Jahr gestiegen. Ein deutliches Boom-Anzeichen.

Es boomt auch im chinesischen Baugewerbe. Vor zehn Jahren gab es kein nennenswertes Netz an autofähigen Fernstraßen. 2004 maß das chinesische Autobahnnetz schon gut 30 000 Kilometer, Tendenz: rasch wachsend. Gebührenpflichtige Schnellstraßen ziehen sich in der Höhe der fünften Stockwerke durch Schanghai, man schaut vom Beifahrersitz hinaus und stellt fest: Da unten liegt ja noch eine Stadt! Die andere, die man im Blick hatte, ist 6000 Wolkenkratzer groß geworden und aus rund 350 Meter Höhe vom Jinmao-Turm aus zu besichtigen. "Dieses Hochhaus war vor einer halben Stunde noch nicht da", prahlen eingefleischte Schanghaier.

Nachts lässt sich diese 20-Millionen-Metropole anstrahlen. Was ein richtiger Boom ist, muss auch beleuchtet werden. Was eine moderne Stadt ist, braucht indes auch Klimaanlagen. Die fressen so viel Elektrizität, dass Schanghai - wie andere Städte auch - in diesem Sommer den Strom rationieren musste, also abschaltete. Für die Privatleute, nicht für die Industrie: produziert werden muss ja, damit Boom ist.

Fragt sich, wie lange das gut geht. In den Millionenstädten steht derzeit mehr Büroraum leer als in einem Quartal hinzugebaut wird - auf einem Terrain, das gestern noch aus höchstens vierstöckigen, meist kleineren Wohnhäusern bestand. Wer da wegziehen muss, bekommt ein bisschen Bargeld auf die Hand. Für eine neue Wohnung in der Stadt reicht das nicht. Die könnte man pachten für umgerechnet 500 bis 700 Euro pro Quadratmeter, auf 70 Jahre, dann fällt das Eigentum an den Staat zurück. Es steht also auch Wohnraum leer.

Ungewiss ist, ob die Bauarbeiter ihren Lohn sehen. Ausgerechnet Renmin Ribao, das Zentralorgan der Staatspartei im Niedriglohnland China, stellte vor einigen Tagen vier Fragen: Was zahlen die Unternehmen wirklich? Wie oft bleiben sie den Lohn schuldig? Halten sie sich an den Achtstundentag? Sind die von ihnen beschäftigten Wanderarbeiter gegen Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit versichert?

Die Parteizeitung kann solche Fragen wohl nicht umgehen. Die Partei kann es, seit der frühere Parteichef Jiang Zemin unter dem Schlagwort der "Drei Vertretungen" die kapitalistischen Aufsteiger zum Beitritt ermutigt hat.

Eine südchinesische Tageszeitung rechnete dieser Tage aus, dass es in China derzeit 236 000 Dollar-Millionäre gebe. Sie hätte eine weitere Zahl hinzufügen können: Diese Reichen verfügen über persönliche Einkommen, die fast tausendmal höher sind als die der ärmsten zehn Prozent. Und erstmals seit 1979 nimmt die Zahl der absolut Armen wieder zu. Als arm gilt, wer weniger als 70 Euro verdient - im Jahr. Das sind derzeit 29 Millionen Chinesen.

Es wäre ein heißes Thema für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas. Sie ist einst von einer Revolution an die Macht getragen worden, deren Kern aus einer Bauern-Armee bestand. Heute sind Bauern die Verlierer. Ihre Einkommen sinken wieder, ihre Steuerlast wird schwerer, und der Willkür korrupter Beamter sind sie häufig so sehr unterworfen wie in den Jahren vor der Revolution.

Aus: Frankfurter Rundschau 18.10.2004


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