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Die Macht der Zentrale reicht nicht weit

China-Experte Rolf Geffken über den laufenden Volkskongress, Arbeitskämpfe und die getriebene Regierung *


Dr. Rolf Geffken ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Leiter des Instituts für Arbeit ICOLAIR in Hamburg sowie Autor mehrerer Publikationen zu China, vor allem zu arbeitsrechtlichen Fragen. Anlässlich der jährlichen, zehntägigen Sitzung des chinesischen Volkskongresses sprach mit ihm für »nd« Ralf Hutter.

nd: Seit Dienstag tagt in China der Nationale Volkskongress. Wie repräsentativ für die Bevölkerung sind die 3000 Delegierten?

GeffkenSie sind etwas repräsentativer als vorher. Etwa 13 Prozent kommen im klassischen Sinne aus der Industriearbeiterschaft und auch aus der Schicht der Wanderarbeitnehmer. Insgesamt gesehen kann man aber von einer repräsentativen Vertretung der chinesischen Bevölkerung, vor allem der Landbevölkerung, nicht reden.

Sie selbst sind Arbeitsrechtler und kennen sich gut mit Arbeitskämpfen in China aus. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei und zukünftige Staatspräsident, Xi Jinping, ist nicht nur Chemieingenieur, was ihn für ökologische Verwerfungen sensibel machen könnte, sondern auch promovierter Jurist. Ist das ein Grund zur Hoffnung?

Gut, es ist das erste Mal seit geraumer Zeit, dass in der klassischen Parteinomenklatura jetzt auch ein Jurist dabei ist. Aber das hat allenfalls symbolische Bedeutung. Der Anspruch Chinas, mit dem Gesetz zu regieren, existiert ja schon sehr lange. Etwas anderes wäre es vielleicht, wenn es jemand aus dem Justizapparat wäre, beispielsweise ein praktizierender Richter, oder ein praktizierender Anwalt.

Die »Süddeutsche Zeitung« zitiert einen Anwalt, der auch Parteimitglied ist, mit den Worten: »Viele meiner Freunde wurden vor 20 Jahren Rechtsanwälte, weil sie dachten, sie könnten zum Wandel beitragen. Sie haben alle resigniert.« Haben Sie, Herr Geffken, auch resigniert?

Ich beobachte ja hauptsächlich nur. Aber selbst wenn ich eingreifen könnte, würde ich das nicht so sagen. Richtig ist natürlich, dass die Bedeutung des Rechts, die in China in den letzten Jahren zugenommen hat, und auch die Ansprüche, die politisch damit verbunden waren, sowohl inner- wie auch außerhalb Chinas gewisse Hoffnungen, um nicht zu sagen Illusionen geweckt haben - nämlich die Vorstellung, dass sozusagen mit der formalen Einführung eines durchaus umfangreichen Rechtssystems auch gleichzeitig rechtsstaatliche Verhältnisse verbunden seien. Das hat sich als Illusion erwiesen. Aber von Resignation kann trotzdem nicht die Rede sein. Das Entscheidende ist die Frage, inwieweit gesellschaftliche Gruppen mehr Spielraum erhalten und ihre Interessen besser durchsetzen können. Wenn das gewährleistet ist, dann besteht auch Hoffnung. Dass es aus dem Apparat selbst heraus zu großen Veränderungen kommt - diese Hoffnung kann man nicht ernsthaft vertreten. Tatsache ist aber, dass China, auch wenn das hier nicht so richtig wahrgenommen wird, seit geraumer Zeit das streikfreudigste Land der Welt ist, auch was sonstige massive kollektive Konflikte betrifft.

Korruption wird nach wie vor von der chinesischen Bevölkerung als ein monströses Problem angesehen. Xi Jinping hat sich, seit er zum Generalsekretär gewählt wurde, als volksnaher Asket gegeben und den ganzen Praktiken öffentlich den Kampf angesagt, die von anderen Funktionären so bekannt sind. Ist das glaubwürdig?

Ja. Aber ich weiß nicht, der wievielte Führer oder verantwortliche Politiker an der Spitze Chinas das jetzt ist, der durchaus glaubwürdig diese Position vertritt, ohne dass sich wesentlich etwas geändert hat. Das Problem ist, dass in China die Zentrale nicht die Macht besitzt, die man sich außerhalb Chinas vorstellt und die sich auch viele Chinesen durchaus wünschen. Es ist ja nicht so, dass die chinesische Partei insgesamt, oder die Partei- und Staatsführung in den Augen der chinesischen Bevölkerung am Pranger steht, sondern es ist umgekehrt so, dass in den Provinzen und in den Städten immer wieder festgestellt werden muss, dass die Macht der Zentrale nicht sehr weit reicht. Die Praxis vor Ort zeugt von einer großen Autonomie der Provinzfürsten.

Nach außen ist die chinesische Wirtschaft beeindruckend. Ist das System aber auch nachhaltig?

Das kann man bestimmt nicht sagen. Auf der anderen Seite hat aber die chinesische Partei- und Staatsführung keine andere Wahl, als den Prozess des wirtschaftlichen Wachstums voranzutreiben. Ansonsten würden sich die Widersprüche noch erheblich mehr zuspitzen. Beispielsweise kommen die Hochschulabsolventen immer weniger in Lohn und Brot, ähnlich wie in einigen westeuropäischen Staaten. Aber die Auswirkungen des Wachstums überlässt man - wenn auch nicht unbedingt in vollem Bewusstsein der Folgen, sondern einfach, weil es zur Zeit in China offenbar nicht anders geht - dann gerne den Provinzen, oder den Leuten, die in den großen Städten die Macht haben. Und da haben wir das Problem der Verflechtung vieler Unternehmen mit den kommunalen Behörden, was immer wieder zu Grundstücksmanipulationen, rechtlosen Enteignungen, Umweltverschmutzungen oder auch der Diskriminierung von Wanderarbeitern führt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 06. März 2013


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