Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf Messers Schneide

China leidet unter schwachem Euro, einem unterentwickelten Binnenmarkt und einer Immobilienblase. Zugleich gewinnen Devisenreserven, Auslandsinvestitionen an Umfang

Von Tomasz Konicz *

Auch die Volksrepublik China, oftmals als der kommende globale Konjunkturmotor gehandelt, leidet unter der europäischen Schuldenkrise. Das chinesische Handelsministerium veröffentlichte am vergangenen Montag eine Erklärung, derzufolge der beständig im Wert sinkende Euro die chinesische Exportwirtschaft zusehends in Bedrängnis bringe. Demnach habe der Euro in den vergangenen vier Wochen gegenüber dem Yuan 14,5 Prozent an Wert eingebüßt und sei auf den niedrigsten Wert seit Ende 2002 gefallen. »Das erhöht den Kostendruck für die chinesischen Exporteure und beeinträchtigt auch Chinas Ausfuhren in die europäischen Länder«, erklärte der Sprecher des chinesischen Handelsministeriums, Yao Jian, auf einer Pressekonferenz.

Diese Abwertung des Euro werde sich laut Yao Jian auf den chinesischen Handelsbilanzüberschuß auswirken, der neuesten Prognosen zufolge von umgerechnet 196 Milliarden US-Dollar im Jahr 2009 auf rund 100 Milliarden US-Dollar fallen könnte.

Einbruch bei Exporten

Ähnlich wie in Deutschland entwickelte sich in den vergangenen Dekaden auch in China eine exportorientierte Wirtschaftsstruktur, doch im Gegensatz zur weiter voranschreitenden teutonischen Exportoffensive (siehe junge Welt vom 14.05.2010) gehen Chinas Exportüberschüsse seit Krisenausbruch allmählich zurück. Gegenüber der New York Times (NYT) klagten bereits Vertreter der chinesischen Exportindustrie über den aktuellen Nachfrageeinbruch in Europa: »Wir erhalten Anrufe von einigen europäischen Klienten, die ihre Bestellungen stornieren«, da die Abwertung des Euro ihre Gewinnmargen erodiert habe, wird ein Manager zitiert.

Ein weiterer Krisenherd der chinesischen Ökonomie machte ebenfalls am vergangenen Montag Schlagzeilen, als Chinas wichtigster Aktienmarkt um mehr als fünf Prozent einbrach, nachdem chinesische Regierungsvertreter Maßnahmen zur Abkühlung des boomenden Immobilienmarktes ankündigten. Dies wurde auch höchste Zeit, denn im April wurde bekannt, daß die Immobilienpreise im Jahresvergleich um 13 Prozent gestiegen waren. Der Bauboom gilt als ein wichtiges Konjunkturstandbein der Volksrepublik, doch die zunehmenden spekulativen Tendenzen wecken Befürchtungen vor einem Zusammenbruch des Immobilienmarktes nach dem Muster der USA.

Dennoch greifen solche Analogien zu kurz: Die Sparquote der chinesischen Bevölkerung ist aufgrund des fehlenden Sozialstaates sehr hoch, zudem wird in China grundsätzlich bei dem Erwerb einer Immobilie eine Anzahlung verlangt, die z.B. bei Zweitwohnungen 50 Prozent der Kaufsumme beträgt. Überdies befindet sich China in einem Prozeß stürmischer Industrialisierung und Urbanisierung, der viele spekulative Exzesse auf dem Immobilienmarkt relativiert. Ein unkontrolliertes Platzen der Blase auf dem Immobilienmarkt könnte die chinesische Regierung schlicht durch breit angelegte Aufkäufe fauler Hypotheken und Kredite verhindern, da das Reich der Mitte förmlich in Devisen schwimmt. Im ersten Quartal 2010 sollen die Devisenreserven Chinas auf schwindelerregende 2447 Milliarden US-Dollar angeschwollen sein, was einer Steigerung von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gleichkommt. Freilich besteht auch die Gefahr, daß bei einer unkontrollierten inflationären Entwicklung in Europa oder den USA der reale Wert dieses Devisenbergers sehr schnell schrumpfen könnte - auf umgerechnet bereits 80 Milliarden US-Dollar sollen sich Chinas Devisenverluste aufgrund der Euroschwäche summieren.

Der Aufbau des chinesischen Devisenberges geht mit einer verstärkten chinesischen Investitionstätigkeit im Ausland einher. Chinesische Direktinvestitionen betrugen im ersten Quartal 2010 6,1 Milliarden Euro - ein Anstieg um 103,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Das Geschäftsvolumen der chinesischen Unternehmen im Ausland verzeichnete einen Anstieg um 28,7 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro. Im Focus der Volksrepublik steht der Rohstoffsektor: allein am vergangenen Dienstag machten Nigeria und China ein umfassendes Investitionsabkommen im Umfang von 18 Milliarden Euro publik, das den Aufbau von drei Erdölraffinerien vorsieht und als die bislang größte Einzelinvestitionen Chinas in Afrika gilt.

Stagnierender Konsum

Bisher blieben alle Versprechen der Führung in Peking, den chinesischen Binnenmarkt anzukurbeln, Makulatur. Während der vergangenen sechs Jahre sank der Anteil der Haushaltseinkünfte am Nationaleinkommen von 70,5 Prozent 1988 auf nur noch 59,1 Prozent 2007. Immer noch steigt die Wirtschaftsleistung weitaus stärker als das Konsumniveau. Eine Umstellung der chinesischen Wachstumsdynamik - die derzeit durch Staatsinvestitionen und Export angetrieben wird - auf Massenkonsum scheint angesichts dieser langfristigen Entwicklung kaum möglich. Trotz aller Bemühungen bleibt somit China weiterhin in der Krisensymbiose mit den Vereinigten Staaten verfangen, die sich in einem enormen US-Handelsdefizit gegenüber der Volksrepublik äußert. Die Exportüberschüsse der chinesischen Industrie gegenüber den USA summierten sich 2009 auf knapp 227 Milliarden US-Dollar - bei einem globalen Handelsüberschuß von 196 Milliarden US-Dollar - und sollen in diesem Jahr Hochrechnungen zufolge nur unwesentlich auf circa 210 Milliarden US-Dollar fallen. China wird weiterhin dieses Defizit durch Aufkäufe amerikanischer Schuldverschreibungen finanzieren. Somit verwundert es nicht, daß am Dienstag das US-Finanzministerium wieder Aufkäufer amerikanischer Staatsobligationen vermelden konnte. Die chinesischen Devisenreserven in US-Bonds stiegen demnach um zwei Prozent auf 895,2 Milliarden US-Dollar. Ein dermaßen von der amerikanischen Defizitökonomie abhängiges China wird aber mit Sicherheit nicht die Rolle einer künftigen globalen Konjunkturlokomotive einnehmen können.

* Aus: junge Welt, 20. Mai 2010


Zurück zur China-Seite

Zurück zur Homepage