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Der Fall Bo Xilai und seine Folgen

Berufungsklage des ehemaligen chinesischen Spitzenpolitikers wurde abgewiesen

Von Rolf Geffken *

Das Volksgericht im ostchinesischen Jinan hat am Freitag die Berufung des gestürzten chinesischen Spitzenpolitikers Bo Xilai gegen seine Verurteilung zu lebenslanger Haft zurückgewiesen.

Bo Xilai, ehemals Mitglied des Politbüros der KP Chinas und Vorsitzender der Parteiorganisation in der 30-Millionen-Metropole Chongqing war am 22. September vom Mittleren Volksgericht in Jinan zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Ausübung politischer Ämter wurde ihm verboten, sein Vermögen wurde konfisziert. Verurteilt wurde er im Wesentlichen wegen Veruntreuung, Amtsmissbrauch und passiver Bestechung während seiner Amtszeit in der Stadt Dalian. Größtes Interesse fand der Prozess nicht zuletzt deshalb, weil »BXL« noch kurz vor seiner Verhaftung als Anwärter auf den Posten des Vorsitzenden der KP Chinas galt – als Konkurrent des heutigen Amtsinhabers Xi Jinping.

Die Tatsache, dass der Machtkampf gewissermaßen auf dem Umweg über die Justiz entschieden wurde, ist ein für China neues Phänomen. Im Lande selbst wurden Prozess und Urteil als Muster für Transparenz und Korruptionsbekämpfung gefeiert. Doch war der Prozess wirklich ein Signal für mehr Rechtsstaatlichkeit in China? Erhebliche Zweifel bleiben. Aus verschiedensten Gründen werden sie jedoch weder in China noch in Deutschland formuliert. Vielen Chinesen erscheinen die Publizität des Prozesses und seine partielle Öffnung für soziale Netzwerke bereits als Belege für mehr Transparenz. In Deutschland scheint Bos politische Position die mediale Aufmerksamkeit getrübt zu haben. Prozesse gegen Schriftsteller oder Künstler genießen mehr Publizität. Dabei werden dieser Prozess und sein Ergebnis vermutlich in mehrfacher Hinsicht historische Bedeutung für China erlangen.

Das gilt allerdings nicht für Bos Verfolgung wegen Korruption. Die Korruption ist in China ein Phänomen, von dem alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens erfasst sind, auch die Justiz, für die kürzlich »Verhaltensregeln für Richter« entwickelt wurden, um Korruption vorzubeugen. Spektakuläre Fälle von Korruptionsurteilen markieren eher die Spitze des Eisbergs, als dass sie eine konsequente strafrechtliche Verfolgung beweisen würden. Und selbst diese Fälle waren oft nicht Ergebnis strenger Ermittlungen, sondern resultierten lediglich daraus, dass eben unzählige Kader »erpressbar« sind und jederzeit legal aus dem Verkehr gezogen werden können, falls es bestimmten Kräften beliebt. Das widerspricht durchaus nicht dem Umstand, dass China sich selbst das Ziel gesetzt hat, »mit den Gesetzen zu regieren«, also politische Entscheidungen rechtsförmig zu finden, zu begründen und durchzusetzen. Im Gegenteil: Die Beseitigung politischer Konkurrenten durch strafrechtliche Verurteilung wird bevorzugt, weil sie anders als die willkürliche Eliminierung den Anschein von Legalität hat.

Viel spricht dafür, dass dieser Mechanismus auch im Fall Bo Xilai eingesetzt wurde. Warum? Schon der Zeitpunkt ist bemerkenswert. Zurzeit der avisierten Kandidatur für das Amt des KP-Vorsitzenden war Bo Parteichef in Chongqing. Doch nicht wegen angeblicher Verfehlungen in Chongqing wurde er verurteilt (abgesehen vom Vorwurf angeblichen Machtmissbrauchs im Fall seiner Ehefrau), sondern wegen vier Jahre zurückliegender angeblicher Verfehlungen in Dalian. Erstmals in der neueren KP-Geschichte standen mit Bo Xilai und Xi Jinping politische Alternativen zur Debatte. Bo hatte sich in Chongqing einen Namen nicht als Technokrat gemacht, sondern dadurch, dass er für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung eintrat und zu diesem Zweck gezielt den staatlichen und kommunalen Sektor der Wirtschaft unterstützte und ausbaute. Das widersprach Politik und Ideologie jener neoliberalen Kräfte, die heute über die Mehrheit im Politbüro verfügen. Und er bekannte sich zu den ideologischen Wurzeln der KP und zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaft, womit er sich vom ungeklärten Begriff der »harmonischen Gesellschaft« abgrenzte.

Begleitet war Bos Aufstieg in Chongqing von einer Art neuer Massenbewegung, die an Traditionen aus der Mao-Ära anknüpfte. Dieses quasi plebiszitäre Element seiner Politik und die Ablehnung eines neoliberalen Kurses wurden ihm offensichtlich zum Verhängnis. Westliche Medien diffamierten ihn schlicht als »Maoisten«, ausländische Investoren äußerten Ängste vor einer Rückkehr zum »Sozialismus«, in China selbst wurde die Angst vor einer Rückkehr in die Barbarei der »Kulturrevolution« geschürt.

Exakt zu der Zeit, da sich die Frage Bo oder Xi zuspitzte, begannen die Ermittlungen zunächst gegen Bos Ehefrau wegen der angeblichen Beteiligung an der Ermordung eines Briten. Schritt für Schritt wurden zunächst seine Frau, danach er selbst in der Partei ausgegrenzt. Schließlich wurde er seiner Ämter enthoben und strafrechtlich verfolgt. Die vermeintliche »Kampagne gegen Korruption« beginnt sich nun auch gegen andere Vertreter der Staatsunternehmen innerhalb der KP-Spitze zu richten.

Der Prozess gegen Bo Xilai war also ein politischer Prozess in Gestalt eines »normalen« Strafprozesses. Verfolgung und Verurteilung dienen der Ausschaltung von Alternativen zur aktuellen Politik der KP und nicht etwa der »Bekämpfung der Korruption«.

Die Frage, ob die Vorwürfe gegen Bo zutreffen, ist mit dem Prozess keineswegs geklärt. Bereits die Verurteilung seiner Ehefrau wegen Anstiftung zum Mord war fragwürdig. Sie beruhte nicht nur auf einem in China gern gesehenen »Geständnis«, sondern auch auf einem Deal, nach dem auf eine prozessuale Wahrheitsfindung gewissermaßen einvernehmlich verzichtet wurde. Bo selbst sagte, er sei bei den Vernehmungen psychischem Druck ausgesetzt gewesen. Das ist durchaus glaubhaft, bedenkt man, dass chinesische Strafverfolgungsbehörden oft wesentlich effektivere Mittel als bloßen psychischen Druck ausüben. Das Gericht aber maß dem keine Bedeutung bei. Wer Dramaturgie und Choreografie chinesischer Strafprozesse kennt – der Verfasser hat sie als Beobachter selbst erlebt – und wer als Anwalt über Vergleichsmöglichkeiten verfügt, der weiß, was es für einen Angeklagten bedeutet, während der Verhandlung an Händen oder Füßen gefesselt zu sein und den Druck der Hände von Justizpolizisten auf beiden Schultern zu spüren. Zwischen Anwalt und Angeklagtem liegt die gleiche räumliche Entfernung wie zwischen Staatsanwalt und Angeklagtem. Der Betroffene ist isoliert und darauf orientiert, was man von ihm erwartet, nämlich Geständnis und »Wahrheit«. Nicht die systematische Vernehmung von Zeugen unterschiedlicher Herkunft stand im Vordergrund, sondern die Verwertung angeblicher Dokumente und die Vernehmung des Angeklagten.

Richter in China sind nicht unabhängig. Sie unterliegen selbst nach chinesischem Recht zahlreichen administrativen Einflüssen von Staat und Partei. Verbindliche Auslegungsregeln minimieren den richterlichen Entscheidungsspielraum, interne Rechtsprechungsausschüsse verhindern Überraschungsentscheidungen, die Disziplinargewalt über Richter geht weit über das hier bekannte Maß hinaus. Schließlich nimmt auch die Partei über die Justizorgane Einfluss auf die Rechtsprechung.

Die Annahme, im Fall Bo Xilai hätten unabhängige Richter ein faires Urteil in einem fairen Verfahren gefällt, wäre demnach einigermaßen naiv. Prozess und Urteil sind kein Beweis für die Einhaltung rechtstaatlicher Prozessstandards in China, sondern für die Instrumentalisierung der Justiz zu politischen Zwecken. Darüber hinaus gelang mit diesem Prozess eine nachhaltige Weichenstellung für einen neoliberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik. Ausländische Investoren und chinesische Unternehmen sind einstweilen sicher vor »maoistischen Abenteuern«.

* Dr. Rolf Geffken ist Fachanwalt für Arbeitsrecht. Zu seinen Spezialgebieten gehört das Recht der VR China.

Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Oktober 2013



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