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Auf revolutionärer Basis

Soziale Ursprünge des ökonomischen Aufstiegs Chinas

Von Giovanni Arrighi *

Die enge Übereinstimmung zwischen der gegenwärtigen Umgestaltung der politischen Ökonomie Chinas und Adam Smiths Konzeption von markt­orientierter Entwicklung heißt nicht, daß Deng Xiaopings Reformen in irgendeiner Weise von Smiths Texten inspiriert gewesen wären. Wie bereits bemerkt, nahmen die Praktiken des Beamten Chen Hongmou im 18. Jahrhundert das vorweg, was Smith später in »Der Wohlstand der Nationen« theoretisch erörterte. Diese Praktiken entstammten nicht der Theorie, sondern einer pragmatischen, von chinesischen Traditionen inspirierten Herangehensweise an Probleme der Staatsführung im China der Mitte der Qing-Dynastie. Ob Deng jemals Smiths Texte las oder nicht, seine Reformen leiteten sich aus einer ähnlich pragmatischen Herangehensweise an Probleme der Staatsführung im China nach Mao her.

So hat Wang Hui von der Tsinghua Universität kürzlich die Ursprünge der Reformen zurückgeführt auf eine – innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) weithin gutgeheißene – Reaktion auf die »internen Unstimmigkeiten und den chaotischen Charakter der Politik während der letzten Jahre der Kulturrevolution«. Während sie die Kulturrevolution vollkommen ablehnte, wies die KPCh dennoch »weder die Chinesische Revolution oder sozialistische Werte noch Mao Zedongs Gedankengut im Ganzen zurück«. Zwei Auswirkungen ergaben sich daraus. »Erstens hat die sozialistische Tradition bis zu einem gewissen Grad als interne Beschränkung staatlicher Reformen gewirkt. Jedes Mal, wenn das System der Staatspartei die politische Linie entscheidend veränderte, mußte dies im Dialog mit dieser Tradition durchgeführt werden. (…) Zweitens gab die sozialistische Tradition Arbeitern, Bauern und anderen gesellschaftlichen Kollektiven legitime Mittel an die Hand, gegen die korrupten oder inegalitären Methoden der Marktorientierung zu kämpfen oder über sie zu verhandeln. So eröffnet eine Reaktivierung von Chinas Vermächtnis innerhalb des historischen Prozesses der Überwindung der Kulturrevolution auch eine Möglichkeit zur Entwicklung künftiger Politik.«[1]

Revolution als Reformgrundlage

Was die Beziehungen zwischen den Reformen und Chinas sozialistischer Tradition angeht, gibt es mindestens zwei gute Gründe dafür, daß die KPCh unter Deng die Kulturrevolution, aber nicht die durch die Chinesische Revolution begründete Tradition ablehnte. Erstens vollendeten die internen Unstimmigkeiten und das politische Chaos der späteren Jahre der Kulturrevolution die Errungenschaften der Chinesischen Revolution, drohten diese aber gleichzeitig zunichte zu machen. Und zweitens verschonte der Ansturm der Kulturrevolution die KPCh nicht, vielmehr unterminierte er die Basis der Macht und Privilegien ihrer Kader und Funktionäre im Verwaltungsapparat. So hatten Dengs Reformen einen doppelten Reiz: für Parteikader und Funktionäre als Mittel zur Wiederherstellung ihrer Macht und Privilegien auf neuer Grundlage, und für die Gesellschaft im allgemeinen als Mittel zur Konsolidierung der Errungenschaften der Chinesischen Revolution, die die Kulturrevolution gefährdet hatte.

Was den ersten Anreiz betrifft, so schufen die Reformen unzählige Gelegenheiten zur Neuausrichtung unternehmerischer Energien von der politischen auf die wirtschaftliche Sphäre, die Parteikader und -funktionäre eifrig beim Schopf packten, um sich im Bündnis mit Regierungsbeamten und Managern von Staatsunternehmen – häufig selbst einflußreiche Parteimitglieder – zu bereichern und Macht zu erlangen. Dabei wurde mit diversen Formen der Akkumulation durch Enteignung, etwa der Aneignung öffentlichen Besitzes, der Veruntreuung staatlicher Gelder und dem Verkauf von Landnutzungsrechten, der Grundstock riesiger Vermögen gelegt. Unklar ist jedoch, ob Bereicherung und Machterwerb dieser Art zur Herausbildung einer kapitalistischen Klasse geführt haben und, noch wichtiger, ob eine solche Klasse, wenn sie denn entstanden ist, die Kontrolle über die Kommandohöhen der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft übernehmen konnte. Unter Jiang Zemin (1989–2002) schien eine positive Antwort auf beide Fragen nahezuliegen. Aber unter Hu Jintao und Wen Jiaobao – wenn die Zeitspanne zur Beurteilung ihrer Orientierung auch kürzer ist – kommt es anscheinend zu einer Umkehr, durch die eine positive Antwort, insbesondere auf die zweite Frage, viel weniger naheliegt.[2]

Was den Reiz von Dengs Reformen für die Gesellschaft im allgemeinen betrifft, so müssen wir zunächst anerkennen, daß der Erfolg der Reformen in hohem Maße auf früheren Errungenschaften der Chinesischen Revolution beruhte. Wenn westliche und japanische Beobachter Chinas Arbeiterschaft im Vergleich zu der Indiens, einschließlich ländlicher Migranten, für ihre Bildung, Lernwilligkeit und Disziplin loben, schreibt Au Loong-yu, »kommt ihnen gar nicht in den Sinn, daß einer der Faktoren hierfür die große Veränderung durch die vorhergehende Landreform ist, und die aus ihr folgende kollektive Versorgung mit ländlicher Infrastruktur und Bildung, und nicht etwas, das mit der späteren Marktreform zu tun hatte«.[3] Der Boom in der landwirtschaftlichen Produktion von 1978 bis 1984 hatte etwas mit den Reformen zu tun, aber nur, weil sie auf dem Vermächtnis der Mao-Ära aufbauten. 1978 bewässerten die Gemeinden Chinas mehr als doppelt so viel Ackerland wie 1952 und setzten verstärkt verbesserte Technologien ein, wie Düngemittel und ertragreichen Halbzwergreis, der 1977 auf 80 Prozent der chinesischen Reisanbaufläche wuchs. »Zu dem Boom in der landwirtschaftlichen Produktion kam es dadurch, daß die während der Mao-Ära aufgebaute produktive Basis mit den Anreizen durch das System der Eigenverantwortlichkeit der Haushalte verbunden wurde.«[4]

Chinas größte Fortschritte im Pro-Kopf-Einkommen traten nach 1980 auf. Aber die größten Fortschritte in der Lebenserwartung Erwachsener und, in einem geringeren Ausmaß, in der Alphabetisierungsrate Erwachsener, das heißt in der Grundversorgung, traten vor 1980 auf. Dieses Muster ist ein starker Beleg für die Behauptung, daß Chinas wirtschaftlicher Erfolg auf den außergewöhnlichen sozialen Errungenschaften der Mao-Ära aufbaute. In einem 1981 veröffentlichten Bericht erkannte sogar die Weltbank die Bedeutung dieser Errungenschaften an. »Chinas bemerkenswerteste Errungenschaft der letzten dreißig Jahre ist, daß die untersten Einkommensschichten hier in bezug auf Grundbedürfnisse viel besser gestellt sind als in den meisten anderen armen Ländern. Sie haben Arbeit, ihre Nahrungsmittelversorgung wird durch eine Mischung aus staatlicher Rationierung und kollektiver Eigenversicherung gewährleistet, der größte Teil ihrer Kinder besucht nicht nur eine Schule, sondern erhält auch einen vergleichsweise guten Unterricht, und die große Mehrheit hat Zugang zu elementarer Gesundheitsversorgung und Familienplanungsdiensten. Die Lebenserwartung– deren Abhängigkeit von vielen wirtschaftlichen und sozialen Variablen sie wahrscheinlich zum besten Einzelindikator für das Ausmaß echter Armut in einem Land macht – ist außerordentlich hoch für ein Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen dieses Niveaus.«[5]

Weltpolitik nach Kapitalregeln

Ob Dengs Reformen diese Errungenschaften konsolidiert oder unterminiert haben, ist ein strittiger Punkt, zu dem ich hier nur zwei Betrachtungen anstellen möchte. Erstens hatten sich die Indikatoren für die Grundversorgung der Bevölkerung Chinas (Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate Erwachsener) schon vor den Reformen so stark verbessert, daß es wenig Raum für weitere entscheidende Verbesserungen gab. Und doch kam es zu weiteren Verbesserungen, insbesondere in der Alphabetisierungsrate Erwachsener. Von diesem Standpunkt aus scheint es, als hätten die Reformen die vorhergehenden Errungenschaften der Chinesischen Revolution konsolidiert und nicht unterminiert.

Zweitens darf man die Bedeutung von Chinas Fortschritten im Pro-Kopf-Einkommen während der Reformära nicht unterschätzen, selbst wenn sie nicht mit einer entsprechenden Verbesserung der Grundversorgung einhergingen. In einer kapitalistischen Welt ist, wie wir wiederholt betont haben, der nationale Wohlstand, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, die primäre Quelle nationaler Macht. Selbst wenn das Streben nach nationaler Macht die Veränderung der Welt in eine sozialistische Richtung bezweckt, blieb der KPCh, wie Mao stets immer sehr genau verstand, wenig anderes übrig, als das Spiel der Weltpolitik nach den bestehenden kapitalistischen Regeln zu spielen. Als die bevorstehende Niederlage in Vietnam die Vereinigten Staaten zwang, die normalen Handels- und diplomatischen Beziehungen Chinas mit dem übrigen Ostasien und der Welt im Ganzen wieder zuzulassen, war es für das kommunistische China vollkommen sinnvoll, die sich aus diesen Beziehungen ergebenden Chancen zu nutzen, um seinen nationalen Wohlstand und seine Macht zu steigern. Noch bevor die US-amerikanische Invasion im Irak dem chinesischen Aufstieg neuen Schwung verlieh, zeigten Richard Bernstein und Ross Munro ungeschminkt, aber scharfsinnig die wahre politische Bedeutung von Chinas Wechsel zur Marktwirtschaft auf.

»Die Ironie der chinesisch-amerikanischen Beziehungen besteht darin, daß China, als es sich fest im Griff des ideologischen Maoismus befand und solche ideologische Verbissenheit an den Tag legte, daß Amerikaner es für gefährlich und bedrohlich hielten, in Wirklichkeit ein Papier­tiger war, schwach und praktisch ohne globalen Einfluß. Nun, da China die äußeren Zeichen des Maoismus abgelegt und einen pragmatischen Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung und des globalen Handels eingeschlagen hat, scheint es weniger bedrohlich, erwirbt aber tatsächlich die erforderlichen Mittel, um seinen globalen Ambitionen und Interessen mit echter Macht Nachdruck zu verleihen.«[6]

Eine präzisere Version dieser Bewertung ist, daß die KPCh, solange China durch die US-amerikanische Politik des Kalten Krieges vom globalen Handel abgeschnitten war und sich militärisch durch die UdSSR bedroht fühlte, dazu getrieben wurde, Ideologie als Hauptwaffe im Kampf um die nationale und internationale Konsolidierung ihrer Macht einzusetzen. Aber als die ideologische Waffe in den letzten Jahren der Kulturrevolution begann, auf sie zurückzuschlagen, etwa zur selben Zeit, als die USA im Kalten Krieg gegen die UdSSR ein Bündnis mit China anstrebten, waren die Voraussetzungen geschaffen für eine pragmatische Nutzung des Marktes als Instrument des Machterwerbs der KPCh auf nationaler und der Volksrepublik China auf internationaler Ebene. Während über den Machterwerb der KPCh das letzte Wort noch nicht gesprochen ist – da noch nicht klar ist, ob ihr Einfluß auf Staat und Gesellschaft Chinas gestärkt oder geschwächt worden ist –, steht bereits fest, daß die Wirtschaftsreformen für den Machterwerb der Volksrepublik ein durchschlagender Erfolg waren.

Revolutionäre Basis: Bauernschaft

Warum also einen neuen Kurs einschlagen, wie die KPCh es unter ihrer neuen Führung getan hat? Was hat die Veränderung ausgelöst, und in welche Richtung wird sie Chinas Ökonomie und Gesellschaft aller Voraussicht nach führen? Wang Huis Beobachtungen zur Beziehung zwischen Dengs Reformen und der Tradition der Chinesischen Revolution geben uns einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Fragen. Die Grundlage dieser Tradition ist eine eigene chinesische Sorte von Marxismus-Leninismus, die mit der Aufstellung der Roten Armee in den späten 1920er Jahren entstand, sich aber erst nach der Besetzung von Chinas Küstenregionen durch Japan in den späten 1930er Jahren voll entwickelte. Diese ideologische Neuerung hatte zwei Hauptbestandteile.

Erstens wurde das leninistische Prinzip der Partei als Avantgarde beibehalten, die aufrührerische Stoßrichtung der leninistischen Theorie aber aufgegeben. In der stark zersplitterten Einzelstaatsstruktur des Chinas der Bandenchefs und der Guomindang (GMD) gab es keinen »Winterpalast« zu stürmen oder besser gesagt, es gab zu viele solcher Paläste, als daß eine aufständische Strategie irgendeine Erfolgschance gehabt hätte. Die aufrührerischen Aspekte der leninistischen Theorie wurden daher durch das ersetzt, was Mao später als »Massenlinie« zur Theorie erhob – die Idee, daß die Partei als Avantgarde nicht nur Lehrer, sondern auch Schüler der Massen sein sollte. »Dieses Von-den-Massen-zu-den-Massen-Konzept«, so bemerkt Fairbank, »war tatsächlich eine Art Demokratie, angepaßt an die Tradition Chinas, wo der Beamte der oberen Klassen dann am besten regierte, wenn ihm die wahren Wünsche der Menschen vor Ort am Herzen lagen, und er so in ihrem Interesse regierte.«[7]

Zweitens, in der Frage nach der gesellschaftlichen Basis gab die KPCh der Bauernschaft statt dem städtischen Proletariat – Marx’ und Lenins revolutionärer Klasse – den Vorrang. Wie das Massaker der GMD an kommunistisch geführten Arbeitern in Shanghai 1927 demonstriert hatte, waren die Küstenregionen, in denen sich das Gros des städtischen Proletariats konzentrierte, ein viel zu trügerisches Gelände, um von hier aus die ausländische Vorherrschaft und die Hegemonie der GMD über die chinesische Bourgeoisie herauszufordern. Da sie durch die im westlichen Stil ausgebildeten und ausgerüsteten GMD-Armeen immer weiter von den Stätten der kapitalistischen Expansion fortgetrieben wurden, blieb der KPCh und der Roten Armee nichts anderes übrig, als ihre Wurzeln unter der Bauernschaft in armen und entlegenen Gegenden zu schlagen. Dies führte zu dem, was Mark Selden als »einen in beide Richtungen wirkenden Sozialisationsprozeß« beschrieben hat, in dem die Parteiarmee die subalternen Schichten der chinesischen ländlichen Gesellschaft zu einer mächtigen revolutionären Kraft formte und ihrerseits von den Bestrebungen und Werten dieser Schichten geprägt wurde.[8]

Die Verbindung dieser beiden Merkmale mit der modernistischen Stoßrichtung des Marxismus-Leninismus ist die Grundlage der chinesischen revolutionären Tradition und trägt zur Erklärung der Schlüsselaspekte des chinesischen Entwicklungspfads vor und nach den Reformen sowie der jüngsten Veränderung der politischen Linie unter Hu bei. Zuallererst erklärt sie, warum in Maos China, in scharfem Gegensatz zu Stalins UdSSR, die Modernisierung nicht durch die Zerstörung der Bauernschaft, sondern durch eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer Bildung angestrebt wurde. Zweitens erklärt sie, warum die chinesische Modernisierung, vor und nach den Reformen, nicht nur auf die Internalisierung der westlichen industriellen Revolution gegründet war, sondern auch auf die Wiederbelebung der Merkmale der einheimischen Fleißrevolution mit ihrer ländlichen Basis. Drittens erklärt sie, warum unter Mao die Tendenz zur Herausbildung einer städtischen Bourgeoisie von Funktionären der Staatspartei und Intellektuellen durch ihre »Umerziehung« in ländlichen Gegenden bekämpft wurde. Schließlich erklärt sie, warum Dengs Reformen zuerst in der Landwirtschaft gestartet wurden und warum sich Hus neuer Kurs auf den Ausbau der Gesundheits-, Bildungs- und Wohlfahrtsleistungen in ländlichen Gegenden unter dem Banner einer »neuen sozialistischen Landschaft« konzentriert.

Stadt-Land-Kooperation

Das eigentliche, dieser Tradition zugrunde liegende Problem besteht darin, ein Land zu regieren und zu entwickeln, dessen Landbevölkerung größer ist als die Gesamtbevölkerung Afrikas, Lateinamerikas oder Europas. Kein anderes Land außer Indien hatte je ein auch nur ansatzweise vergleichbares Problem. Von diesem Standpunkt aus, und wie schmerzlich die Erfahrung für städtische Funktionäre und Intellektuelle auch gewesen sein mag, konsolidierte die Kulturrevolution die ländliche Basis der Chinesischen Revolution und leistete die Vorarbeit für den Erfolg der Wirtschaftsreformen. Es genügt zu erwähnen, daß– teilweise als Ergebnis der Politik, teilweise als Ergebnis der Störung des städtischen Industriebetriebs durch parteiinterne Konflikte– große Nachfrage nach den Produkten ländlicher Unternehmen bestand, was zu einer bedeutenden Expansion der Kommunen- und Brigadeunternehmen führte, aus denen später viele der TVEs (Township and Village Enterprises, Kollektive Gemeinde- und Dorfunternehmen; d. Red.) hervorgingen.

Gleichzeitig gefährdete die Kulturrevolution nicht nur, wie bereits bemerkt, die Macht der Funktionäre der Staatspartei und die politischen Errungenschaften der Chinesischen Revolu­tion, sondern auch die gesamte modernistische Komponente der revolutionären Tradition. Ihre Ablehnung zugunsten von Wirtschaftsreformen wurde daher als wesentlich für eine Wiederbelebung dieser Komponente präsentiert und wahrgenommen. Im Lauf der Zeit jedoch ließ gerade der Erfolg dieser Wiederbelebung das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen und unterminierte Mitte bis Ende der 1990er Jahre ernsthaft die revolutionäre Tradition. Insbesondere zwei Entwicklungen kennzeichneten diese Tendenz: ein enormer Anstieg der Einkommensunterschiede und die wachsende Unzufriedenheit des Volkes mit den Methoden und den Folgen der Reformen.

Fußnoten
  1. Wang Hui (2006): »Depoliticized Politics, From East to West«, in: New Left Review II/41, S. 34, 44 f.
  2. Die Umkehr kündigt sich nicht nur durch die Veränderung politischer Grundsätze und der intensiveren Beschäftigung der neuen Führung mit sozialen Fragen an, sondern auch in der Nutzung einer laufenden Antikorruptionskampagne zur Säuberung des Parteiapparats von Jiangs Anhängern und der Stärkung der Fähigkeit der KPCh und der Zentralregierung, die neue politische Linie effektiv umzusetzen. Ob die Reformen die Fähigkeit der obersten Führungsschicht der KPCh und der Zentralregierung, politischen Grundsätzen auf provinzieller und lokaler Ebene effektiv Geltung zu verschaffen, gestärkt oder geschwächt haben, bleibt umstritten.
  3. Au Loong-yu (2005): The post MFA Area and the Rise of China. Astan Labour Update 56, S. 10–13. Zu der Zeit, als Dengs Reformen anliefen, hatte China Indien in allen Indikatoren zur menschlichen Entwicklung bereits weit hinter sich gelassen: Alphabetisierungsrate, tägliche Kalorienzufuhr, Sterberate, Säuglingssterberate, Lebenserwartung und so weiter.
  4. Agarwala, Ramgopal (2002): The Rise of China. Threat or Opportunity?, New Dehli: Bookwell, S. 95 f.
  5. Zitiert nach Yuyu Li (2006): The Impact of Rural Migration on Village Development: A Comparative Study in Three Chinese Villages, The Johns Hopkins University, Balti­more/MD
  6. Richard Bernstein/Ross H. Munro (1997): »The Coming Conflict with America«, in: Foreign Affairs 76 (2), S. 22
  7. John K. Fairbank (1992): China. A New History. Cambridge/MA, S. 319
  8. Marc Selden (1995): Ya’nan Communism Reconsidered, Modern China 21 (1), S. 37 f.
Giovanni Arrighi, Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, aus dem US-Amerikanischen von Britta Dutke, VSA-Verlag Hamburg, 520 S., 36,80 Euro

* Giovanni Arrighi ist Professor für Soziologie und Direktor des »Institute for Global Studies in Culture, Power and History« an der Johns Hopkins University in Baltimore/MD, USA.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem o.g. Buch.

Aus: junge Welt, 18. März 2008



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