Benachteiligung durch Hukou soll endlich fallen
Chinesischer Volkskongress will auch über Wanderarbeiter beraten
Von Anna Guhl *
Die diesjährige Tagung des Nationalen Volkskongresses Chinas beginnt am Freitag mit dem
Rechenschaftsbericht von Regierungschef Wen. Ein Diskussionsschwerpunkt soll das Hukou-
System sein.
Wenige Tage vor Einberufung der Jahrestagung gingen 13 einflussreiche Zeitungen tagesgleich in
einem in Wortlaut und Aufmachung übereinstimmenden Editorial massiv und gezielt gegen das
sogenannte Hukou-Systems vor. Unmissverständlich deklassierten sie die seit den 50er Jahren im
Land bestehende Zweiteilung der chinesischen Gesellschaft in Land- und Stadtbürger als
Überbleibsel aus vergangenen Revolutionstagen.
Die weiterhin geltende zweifache polizeiliche Registrierung in der Stadt und auf dem Land
widerspräche nicht nur der geltenden Verfassung, sondern verweigere Millionen von Bürgern die
Teilhabe an Wohlstand und sozialen Vergünstigungen, hieß es zu Beginn der Woche auf den
Frontseiten jener Zeitungen. Eine derart abgestimmt Aktion, so Yao Yang von der Universität
Beijing, habe es in der Geschichte der chinesischen Medien noch nicht gegeben.
Seit Jahren wird in der chinesischen Gesellschaft die Einführung einer einheitlichen polizeilichen
Registrierung für alle chinesischen Bürger gefordert. Denn der Hukou in China ist mehr als nur eine
polizeiliche Anmeldung, wie wir sie hierzulande kennen. Mit dem Stadt-Hukou sind zahlreiche
soziale Vergünstigungen verbunden. Die Kranken- und Rentenversicherung beispielsweise, der
subventionierte Schulbesuch für die Kinder, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, ja selbst der
unbürokratische Zugang zu Wohneigentum und eigenem Auto.
Jahr für Jahr werden daher vor allem am Vorabend der Tagungen des Volkskongresses die
Stimmen in der Gesellschaft laut, die sich für die ersatzlose Streichung der Hukou-Bestimmungen
einsetzen, um den rund 130 Millionen in den Städten lebenden Wanderarbeitern gleiche Rechte und
Vergünstigungen zu gewähren wie den Städtern. Immer wieder mahnen Anwälte und
Wissenschaftler im Land, dass diese Restriktionen nicht allein den sozialen Frieden bedrohen,
sondern auch das gleichmäßige Wachsen von Gesellschaft und Wirtschaft behindern.
Das Hukou-System wurde Ende der 50er Jahre eingeführt, um die von ausländischer Aggression
und Bürgerkrieg arg geschundene chinesische Wirtschaft in den Anfangsjahren der Volksrepublik
erst einmal in Gang kommen zu lassen und den wenigen materiellen Reichtum kontrolliert zu
verteilen. Doch inzwischen boomen die Wirtschaft und mit ihr das Vermögen und der Wohlstand im
Land. Aber die Regierung tut sich weiterhin schwer mit der Einführung eines einheitlichen
Anmeldeverfahrens und mit ihr die großen Städte. Müssten doch gerade sie ein Vielfaches an
Subventionen aus ihren Haushalten für die Millionen Zugezogenen aufwenden.
In einem Online-Chat der einflussreichen Webportale der Regierung und der nationalen
Nachrichtenagentur Xinhua am letzten Wochenende musste selbst Ministerpräsident Wen Jiabao
zugeben, dass die seit Jahren in den Städten beschäftigten Wanderarbeiter den Bezug zu ihrer
bäuerlichen Herkunft längst verloren haben. Sie arbeiten in Fabriken, auf dem Bau, sind im
Transport oder im Dienstleistungsgewerbe tätig und aus dem Stadtbild längst nicht mehr
wegzudenken. Hier müsse unbedingt ein Umdenken stattfinden. Das träfe vor allem auf die zweite
Generation von Wanderarbeitern zu, die in der überwiegenden Mehrheit bereits in den Städten
aufgewachsen ist.
In diesem Zusammenhang haben Juristen und Sozialwissenschaftler, die sich auf Initiative des
Pekinger Anwalts Xu Zhiyong seit 2003 für mehr Gesetzestreue in den Verwaltungen und
Verfassungsschutz in der chinesischen Gesellschaft einsetzen, dieser Tage auf die zum Teil
dramatischen Folgen für die Kinder der Wanderarbeiter aufmerksam gemacht. Sie veröffentlichten
einen Bericht, in dem das Schicksal von Schülern beschrieben wird, die in der Hauptstadt Beijing
aufwachsen und zur Schule gehen und dann plötzlich für die Abiturstufe und zur Vorbereitung auf
die Hochschul-Aufnahmeprüfung in die Heimatorte der Eltern zurückkehren müssen. Denn nach den
derzeitigen Hukou-Bestimmungen dürfen Kinder von Eltern ohne Beijinger Hukou ihr Abitur nicht an
Beijinger Gymnasien ablegen.
Doch in den Heimatorten der Eltern, die für sie weit weg und sehr fremd sind, verstehen sie oftmals
nicht den lokalen Dialekt und rutschen in ihren Leistungen schnell ab. In Umfragen bezeichnen sich
die Betroffenen selbst als »Getriebene im Räderwerk der offiziellen Parteipolitik«. Sie fühlen sich von
Partei und Staat allein gelassen und in ihrer weiteren persönlichen Entwicklung gegenüber
Gleichaltrigen in den Städten benachteiligt.
Yao allerdings bleibt skeptisch. Die Regierung werde, wenn überhaupt, die Restriktionen in den
kleinen und mittleren Städten etwas lockern und deren Infrastruktur optimieren. Damit sollen, so
Yao, die auch in den nächsten Jahren zu erwartenden Wanderarbeiterströme aus den Dörfern von
den Ballungsgebieten weg verlagert und das weitere Wachsen der großen Metropolen verhindert
werden.
Den Initiatoren um Anwalt Xu geht das nicht weit genug. Immerhin leben und arbeiten allein in
Beijing mehr als fünf Millionen Menschen ohne polizeiliche Genehmigung. Sie sollten auch wie
Beijinger Bürger behandelt werden, verlangen sie mit Nachdruck.
* Aus: Neues Deutschland, 4. März 2010
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