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Bachelet weiß Kommunisten hinter sich

Sozialistische Kandidatin ist klare Favoritin

Von Jürgen Vogt, Santiago de Chile *

Die Kommunistische Partei Chiles hat sich dieses Mal entschlossen, die Kandidatur Michelle Bachelets mitzutragen. 2005 war dies noch nicht der Fall.

Am Eingang zur Kommune La Florida lächelt eine übergroße Camila Vallejo vom Wahlplakat. Hier, im Süden der chilenischen Hauptstadt Santiago, kandidiert die ehemalige Studentenführerin und Kommunistin für einen Sitz im Kongress. La Florida ist mit über 300 000 Menschen die zweitgrößte Gemeinde des Landes. Vor 20 Jahren war hier überwiegend noch Acker- und Grasland und Viehweide. Anfang der 70er Jahre wurde die erste große Siedlung gebaut. Das war der Startschuss. Und seit vor sechs Jahren die U-Bahn bis nach La Florida verlängert wurde, ist die Gemeinde direkt mit dem Stadtzentrum verbunden.

»Ich werde ihr am Sonntag die Stimme geben«, sagt Claudio Rodríguez und lenkt seinen Wagen von der Avenida nach links in die kleine Seitenstraße. Vorbei geht es an drei Meter hohen Zäunen, die die einzeln stehenden flachen Häuser von der Straße abschotten. Rodríguez ist seit 20 Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei. Die hat sich erstmals bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen dem Bündnis aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokarten angeschlossen.

Noch immer hat die Verfassung von 1980 aus der Zeit der Pinochetdiktatur (1973-1990) Chile fest im Griff, noch immer herrscht die neoliberale Wirtschaftsordnung, die das Private über alles stellt. 20 Jahre stellte das als Concertación bezeichnete Mitte-Links-Bündnis die Regierung, bis es im Dezember 2009 erstmals von der rechten Allianz für Chile geschlagen wurde. Grundlegende Veränderungen hat es in den ganzen 24 Jahren nicht gegeben.

Claudio Rodríguez war dennoch nicht überrascht, dass sich seine Partei diesmal an dem Bündnis beteiligt. »Neue Mehrheit« nennt sich jetzt das Mitte-Links-Bündnis, das die Kandidatur der Sozialistin Michelle Bachelet trägt, die allen Umfragen zufolge zum zweiten Mal in den Präsidentenpalast La Moneda einziehen wird. »Diesmal wollen wir teilhaben an der Regierung und nicht nur helfen, sie ins Amt zu bringen«, sagt der Kommunist und es klingt, als würde er die Parteilinie zitieren. Auch Camila Vallejo, das Gesicht der Studentenbewegung, musste ihren Kommilitonen erklären, warum sie jetzt mit denen im Boot sitzt, gegen die sie jahrelang gewettert hatte. Sie sei nie gegen das Parteiensystem gewesen, sondern schon immer ein Teil davon. Und es komme jetzt darauf an, Änderungen von innen zu bewirken und nicht von außen.

Für beide ist jedoch wichtig, dass die Präsidentschaftskandidatin die Themen Bildungsreform, Steuerreform und Verfassungsreform als die drei wichtigsten Achsen in ihr Wahlprogramm aufgenommen hat. Während ihrer ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 konnte oder wollte Bachelet an diesen Achsen jedoch nicht rühren.

Dass die 62-jährige Sozialistin Michelle Bachelet gewinnt, gilt als sicher. Die Frage ist nur, ob sie es am Sonntag bereits im ersten Wahlgang schafft oder im Dezember in die Stichwahl muss? Und wenn ja, gegen wen wird sie dann gewinnen?

Die besten Aussichten auf eine zweite Runde hat von den acht Konkurrenten Evelyn Matthei. Schafft am Sonntag niemand den Sprung über die 50-Prozent-Marke, käme es in der Stichwahl vermutlich zu einem denkwürdigen Frauenduell. Bachelet und Matthei sind beide Töchter von Generälen der Luftwaffe. Sie besuchten die gleiche Schule, als die Familien in der Luftwaffenbasis Cerro Moreno lebten, und ihre Eltern kannten sich auch privat. Doch spätestens mit dem Putsch am 11. September 1973 trennten sich die Wege. Bachelets Vater wurde als Allende-Anhänger verfolgt, gefoltert und starb 1974 unter ungeklärten Umständen, Mutter und Tochter gingen nach Haft und Folter ins Exil, von 1975 bis 1979 war die DDR ihre Zuflucht. General Matthei war als Militärattaché in London zwar nicht am Putsch beteiligt, kehrte aber nach Chile zurück und machte auch unter Pinochet Karriere.

Für seine Tochter Evelyn als Kandidatin der rechten Allianz für Chile ist mehr als ein Achtungserfolg aber nicht drin. Das Bündnis aus sturen Pinochet-Anhängern und modernen Rechten ist in einem desolaten Zustand. In dem Versuch aufzuholen prangerte Matthei die Wahlkampffinanzierung Bachelets an. Die habe vier- bis fünfmal so viele Finanzmittel zur Verfügung wie sie selbst. »Von welchen großen Unternehmen kommt das Geld?« Offenbar setzen auch die ökonomisch bestimmenden Gruppen aus Realismus auf den Sieg Bachelets. 20 Jahre lang haben sie gute Erfahrungen mit Mitte-Links-Präsidenten gemacht. Dagegen rollte unter dem gegenwärtigen rechten Amtsinhaber Sebastián Piñera eine noch nie dagewesene Protestwelle durchs Land.

Claudio Rodríguez kennt die Befriedungspolitik der alten Concertación: »Mit einem Bein in der Regierung, mit einem Bein in den sozialen Bewegungen.« Nur so wird es den für Veränderungen erforderlichen Druck geben.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 15. November 2013


Alles ist dem Markt unterworfen

Studentenführer und Parlamentskandidat Francisco Figueroa über das neoliberale Erbe und die Chancen, es zu überwinden **

Francisco Figueroa war als Vizepräsident der FECH (Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile) in den Jahren 2010 und 2011 einer der wichtigsten Köpfe der Studentenbewegung. Der 27-Jährige gehört der Izquierda Autónoma an, einem unabhängigen linken Studentenbündnis, und kandidiert für einen Sitz im Abgeordnetenhaus in den Stadtvierteln Ñuñoa und Providencia in der Hauptstadt Santiago de Chile. Mit ihm sprach für »nd« Jürgen Vogt.


Die Studenten stehen dem politischen System kritisch gegenüber, dennoch kandidieren einige für das Parlament. Wie wird das begründet?

Der größte Teil der Studentenbewegung hat nicht das Parteiensystem oder die Institutionen als solches in Frage gestellt, sondern immer nur die gegenwärtigen Parteien und ihre Interessen, die sie verteidigen. Das ist eines der wesentlichen Elemente der Studentenbewegung. Auch das Bündnis »Neue Mehrheit« mit seiner Kandidatin Michelle Bachelet ist nur ein weiteres Arrangement, um die Macht wiederzuerlangen. Deshalb wollen wir ins Parlament. Bachelet kann viel ankündigen, aber es kommt darauf an, was umgesetzt wird. Es geht auch nicht darum, auf alle Fälle Plätze in den Parlamenten zu besetzen, sondern eine neue breite politische Kraft aufzubauen. Dabei sind die Wahlen am Sonntag nur eine Zwischenstation.

Chile wird immer wieder als Erfolgsmodell dargestellt, zu Recht?

Die Vorstellung, Chile habe als neoliberales Modell einen Vorbildcharakter, ist seit 2011 endgültig passé. Es wurde erstmals öffentlich deutlich gemacht, dass Chile nicht das Hawaii Lateinamerikas ist, sondern zusammen mit Brasilien eines der Länder der Welt mit der ungleichsten Einkommensverteilung. Heute ist Chile ungleicher als zu Zeiten der Diktatur und die demokratische Legitimation ist in Gefahr. Die Sorge, die die Menschen umtreibt, ist die Merkantilisierung ihres Lebens. Soll heißen: Alles ist dem Markt unterworfen – Gesundheit, Rente, Bildung, die ganze Zukunft hängt nur vom eigenen Geld ab.

Gibt es keine staatliche Unterstützung für Bedürftige?

Wer heute irgendeine staatliche Leistung bekommt, muss richtig arm sein. Deshalb bleibt auch 80 Prozent der Bevölkerung nichts anderes übrig als sich zu verschulden, wenn es um Ausgaben für Gesundheit oder Bildung geht. Das Einkommensniveau bei diesen 80 Prozent ist relativ niedrig, aber für den Staat gelten sie nicht als arm. Die Ungleichheit produziert Wut und Frust. Niemand hat Vertrauen in den anderen, weil man ihn als Konkurrenten sieht, und das macht die ganze Gesellschaft krank.

Wie kann die Konfliktlösung organisiert werden?

Der chilenische Staat hat kaum Instrumente, um soziale Konflikte zu lösen. Er hat sich als Verteilungsinstanz bei Gesundheit, Rente und Bildung verabschiedet, dagegen ist er für die Privatindustrie voll präsent. Es gibt hier wenige Unternehmen, die den Staat okkupiert haben und ihn als Garanten für ihre Geschäfte einsetzen. Deshalb ist der Staat zwar nicht als Verwaltungsorgan abgeschafft, wohl aber als ein Raum, in dem die Schaffung eines sozialen Konsens’ ermöglicht wird. Die Verbindung zwischen Gesellschaft und Politik ist abgerissen. Sie muss erst wieder aufgebaut werden. Die Studentenbewegung hat deshalb auch eine hohe Legitimation, für ihre Belange einzutreten, aber sie kann nicht für alles und immer auf die Straße gehen. Die außerparlamentarischen Bündnisse müssen erweitert werden. Da müssen wir neue Köpfe aus anderen Zusammenhängen gewinnen.

Wie spiegeln sich die Forderungen der Studentenbewegung im Wahlkampf wieder?

In Chile glauben noch immer viele, dass Bildung in erster Linie eine Privatangelegenheit ist, und daraus leiten sie ab, dass der Einzelne oder die Familie dafür verantwortlich sind, einen Zugang zu Bildung zu finden. Nach diesem Paradigma geht es darum, wann und wie viel gezahlt werden muss. Das Bewusstsein, dass die Gesellschaft als Ganzes sich darum kümmern muss und dann auch als Ganzes davon profitiert, ist kaum vorhanden. Die Studentenproteste von 2011 haben die drei wichtigsten Wahlkampfhemen überhaupt erst auf die Tagesordnung gesetzt: Bildung, Steuerreform und eine neue Verfassung. Bei der Bildung soll der Staat mehr Verantwortung übernehmen, mit der Steuerreform soll die Sozialpolitik finanziert werden, und bei der Frage nach einer neuen Verfassung geht es darum, ob sie vom Parlament oder von einer verfassunggebenden Versammlung erarbeitet werden soll.

Was bis vor kurzen außergewöhnlich war, ist heute normaler Bestandteil in der Debatte, acht von neun Kandidaten haben diese Themen auf ihrer Tagesordnung. Das ist ein Erfolg der Studentenbewegung.

Es scheint, als würde es am Sonntag einfach einen Wechsel geben und das Mitte-Links-Bündnis Concertación, das von 1990 bis 2010 regiert hatte, wieder die Regierung übernehmen. Hat sich dennoch etwas verändert?

In Chile hat es immer eine sehr starke Rechte gegeben. Dagegen wurde das Mitte-Links-Bündnis aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten von vielen immer als kleineres Übel angesehen und gewählt. Das hat über zwei Jahrzehnte funktioniert. Heute haben wir ein völlig neues Szenario. Die Rechte ist angeschlagen wie nie zuvor und das Mitte-Links-Bündnis begreift allmählich, dass es nicht mehr automatisch die meisten Stimmen bekommt. Eine zukünftige Präsidentin Bachelet könnte sich deshalb von den alten Strukturen lösen. Aber Vorsicht, die chilenische Rechte ist nach wie vor eine der mächtigsten und agilsten in Lateinamerika und sie wird versuchen, die von ihr geschaffene Ordnung aufrechtzuerhalten.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 15. November 2013


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