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Chile braucht eine neue, demokratische Verfassung

Allendes Enkelin wird künftig im Parlament dafür eintreten *


Maya Fernández Allende (42), eine Enkelin Salvador Allendes, wurde am 17. November erstmals ins chilenische Parlament gewählt. Ihre sozialistischen Parteikollegin Michelle Bachelet hat in der Stichwahl um die Präsidentschaft am 15. Dezember alle Chancen, zum zweiten Mal (nach 2006 bis 2010) das höchste Staatsamt zu erobern. Über Vorhaben ihres Parteienbündnisses Neue Mehrheit in der kommenden Legislaturperiode sprach David Rojas-Kienzle für "nd" mit Maya Fernández Allende.


Welche Projekte werden Sie, das Parteienbündnis Neue Mehrheit und die wahrscheinliche Präsidentin vor allem verfolgen?

Unser Programm, das Ergebnis der Arbeit von Kommissionen und allen politischen Akteuren der Neuen Mehrheit, hat drei zentrale Punkte: eine neue Verfassung, eine Bildungsreform, die die Forderungen der Studierenden nach öffentlicher, kostenloser und guter Bildung aufgreift, und eine Steuerreform, denn so eine Bildungsreform erfordert finanzielle Mittel.

Aber die Stimmen der Neuen Mehrheit reichen nicht aus, diese Reformen durchzusetzen.

Für einige Schritte haben wir die notwendige Mehrheit, aber für die wirklich tiefer gehenden Reformen müssen wir durch klare und transparente Vorschläge und in Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen vor allem die unabhängigen Abgeordneten überzeugen.

unterscheidet sich die Neue Mehrheit dem vorherigen linken Parteienbündnis Concertación?

Sie umfasst mehr politische Kräfte: die Kommunistische Partei, die Breite Soziale Bewegung und die Bürgerliche Linke. Und ich denke, das ist gut. Man muss Kräfte vereinen. Je mehr politische Akteure an der Ausarbeitung eines Programms arbeiten, desto besser. Diversität und Meinungsunterschiede sind wichtig, man muss debattieren.

Schon während der ersten Präsidentschaft Michelle Bachelets wurde vieles versprochen, auch eine Bildungsreform als Antwort auf die Schülerproteste 2006. Passiert ist aber wenig.

Die Reform, von der Sie sprechen, war nicht Teil eines Programms und ich bin mit ihren Ergebnissen auch nicht zufrieden. Das Programm für diese Wahlen dagegen wurde umfassend diskutiert, von allen politischen Kräften der Neuen Mehrheit, auch von einigen Unabhängigen. Über die Realisierung dieses Programms können die Bürger wachen, es hat eine entsprechende größere Verbindlichkeit.

Eine Legislaturperiode dauert aber nur vier Jahre und nicht alles wird sich in dieser Zeit umsetzen lassen. Aber man kann Fortschritte erzielen und vor allem einen klar definierten Weg vorgeben. Chile ist in einem neuen politischen Zyklus. Das ist der Moment, das Vertrauen in die Politik und die Institutionen wiederherzustellen.

Äußert sich der Mangel an Vertrauen in die Institutionen nicht auch darin, dass 54 Prozent der Chilenen nicht zur Wahl gegangen sind?

Es gibt verschiedene Gründe für die Wahlabstinenz. Der wichtigste ist wahrscheinlich, dass das Vertrauen fehlt oder dass vielen Menschen egal ist, wer gewinnt. Es gibt aber viele andere Gründe: weil der Bus zum Wahllokal zu teuer ist, weil Leute nicht dort wohnen, wo sie gemeldet sind ...

Glauben Sie, dass Fortschritte innerhalb der engen Grenzen der Verfassung von 1980 möglich sind?

Ich spreche mich für eine neue, demokratische und partizipative Verfassung aus. Wir können nicht mit einer Verfassung weitermachen, die während der Militärdiktatur ausgearbeitet wurde, die nicht demokratisch ist, die den Rechtsstaat nicht garantiert. Wir müssen dem binominalen Wahlsystem (das eindeutige Parlamentsmehrheiten nahezu unmöglich macht – d. Red.) ein Ende bereiten, wir müssen bindende Bürgerentscheide ermöglichen, die indigenen Völker anerkennen und Umweltthemen berücksichtigen. Das alles muss in eine neue Verfassung.

Welche Rolle werden die ins Parlament gewählten Vertreter der Studierenden spielen?

Ich halte es für wichtig, dass die Studenten ins Parlament eingezogen sind. Politische Kämpfe müssen auf der Straße von sozialen Bewegungen, aber auch in den Parlamenten, in den Institutionen geführt werden. Wenn sich die Studierendenvertreter nur auf die Straße beschränken, werden immer wieder dieselben Leute gewählt. Deswegen ist es gut, dass glaubwürdige Führungspersönlichkeiten aus sozialen Bewegungen, die das System verändern wollen, auch innerhalb der Institutionen arbeiten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


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