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"Wir wollen Teil der Lösung sein"

Chiles Studentenbewegung analysiert das vergangene Jahr, um aus Fehlern und Erfolgen zu lernen. Ein Gespräch mit Camila Vallejo und Gabriel Boric *


Camila Vallejo, geboren 1988, ist Mitglied der Kommunistischen Jugend Chiles und war bis Ende 2011 Präsidentin des Studentenverbandes der Universität von Chile (FECH). Anfang Dezember unterlag sie bei den Wahlen um dieses Amt knapp Gabriel Boric von der Linken Liste, dessen Stellvertreterin sie seither ist.


Am vergangenen Donnerstag (19. Jan.) haben die Studenten Chiles mit einer Demonstration offiziell das neue Protestjahr eingeläutet. Das war seit November die erste öffentliche Aktion für kostenlose Bildung. Warum diese lange Pause?

Gabriel Boric: Wir ziehen derzeit Bilanz über das, was das Jahr 2011 bedeutet hat. Es ist sehr wichtig, daß wir unser Verhalten reflektieren, um damit sowohl aus den Fehlern wie aus den Erfolgen zu lernen. Als CONFECH (Konföderation der Studenten Chiles, Dachverband der Studierendenvertretungen der verschiedenen Hochschulen, jW) werden wir voraussichtlich in der zweiten März-Hälfte diese Bilanz veröffentlichen, und dies wird dann der neue Ausgangspunkt sein, für alles, was in der Studentenbewegung 2012 folgen wird.

Camila Vallejo: Es ist schon richtig, es ist ruhiger um die Studentenbewegung geworden. Wir befinden uns in einer Etappe, die nicht durch Mobilisierungen oder große Protestmärsche geprägt ist. Es ist aber eine sehr wichtige Etappe. Wir glauben, daß wir als Bewegung im vergangenen Jahr darauf aufmerksam gemacht haben, daß sich das Bildungssystem in einer Krise befindet und daß es notwendig ist, gegen die Dominanz des Marktes in der Bildung vorzugehen. Wir haben gezeigt, daß das aktuelle Bildungssystem wieder öffentlich werden muß. Aber wir haben noch mehr erreicht. Wir haben auf eine allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit aufmerksam gemacht. Diese Unzufriedenheit, die durch eine große Ungleichheit ausgelöst wird, ist nicht etwas, das sich die Menschen einbilden, sondern was sie jeden Tag leben und erleben. So haben wir als Bewegung deutlich gemacht, daß wir in Chile einen tiefgreifenden Wandel brauchen, nicht nur in der Bildung, sondern auch im politischen Umfeld. Mit diesem Bewußtsein müssen wir als Studentenbewegung jetzt ins neue Jahr starten.

Was heißt das konkret? Was wird anders sein in der Studentenbewegung 2012 als im vergangenen Jahr?

Camila Vallejo: Wir müssen definitiv die gesellschaftliche Mobilisierung in Chile stärken, denn wir glauben, daß das die einzige Form ist, in der wir für unsere Rechte kämpfen können; nicht nur in der Bildung, sondern in der Gesellschaft als Ganzem. Dabei ist das Ziel, daß die verschiedenen protestierenden Gruppen zusammenfinden und sehen, daß wir ein gemeinsame Interessen haben. Dabei reicht es uns als Studentenbewegung aber nicht mehr, wie in der Vergangenheit Debatten im Parlament anzustoßen und dann darauf zu vertrauen, daß unsere Vorschläge umgesetzt werden. Denn wir haben gesehen: Am Ende werden unsere Forderungen nicht umgesetzt. Daraus haben wir gelernt. Wir müssen also diejenigen sein, die mit den Lösungsvorschlägen kommen, und wir wollen darüber hinaus aktiver Teil der Lösung sein.

Gabriel Boric: Dazu gehören Vorschläge zur Veränderung des Steuersystems, das in Chile zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsschichten geht, und zur Umverteilung der Einnahmen aus natürlichen Ressourcen wie Kupfer und Wasser. Die OECD hat am vergangenen Dienstag eine Studie zu Chiles aktueller wirtschaftlicher und politischer Situation veröffentlicht. Darin wird klar gesagt, daß es das Land auf der Welt ist, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich am größten sind. Der beste Weg, um dies zu verändern, und Chile voranzubringen, ist es, eine gute Ausbildung für alle zu ermöglichen.

Wir wissen, daß wir in der Vergangenheit den Fehler gemacht haben, uns zu sehr auf uns selbst zu konzentrieren und andere Mitstreiter zu ignorieren. In diesem Jahr wollen wir gemeinsam mit anderen sozialen Gruppen agieren. Dazu gehören die Schüler der weiterführenden Schulen, Gewerkschafter, Umweltschützer, aber auch Vertreter der indigenen Bevölkerung. Fest steht: Wir können unsere Methoden aus dem Jahr 2011 nicht einfach wiederholen, wir müssen uns als Studentenbewegung neu erfinden. Es kann auch nicht mehr darum gehen, die Universitäten monatelang zu besetzen und hier Wettbewerbe zu starten, welche Uni am längsten durchhält. Das ist absurd und führt zu nichts. Ja, wir müssen auf die Straße gehen und unsere Unzufriedenheit zeigen, die Institutionen unter Druck setzen, aber vor allem durch konkrete Vorschläge. Wir können nicht mehr nur kritisieren, wir müssen auch Alternativen und Lösungen anbieten.

Chiles Innenminister Rodrigo Hinzpeter hat einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um das Demonstrationsrecht stärker zu reglementieren. Unter anderem sind darin Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für die »Störung des öffentlichen Friedens« während einer Demonstration vorgesehen. Falls dieses Gesetz vom Parlament bewilligt wird, wie könnte das die Studentenbewegung und ihre Protestformen beeinträchtigen?

Gabriel Boric: Wir lehnen diesen Gesetzentwurf kategorisch ab, denn er kriminalisiert praktisch alle Formen der Mobilisierung, die wir als Studenten im vergangenen Jahr genutzt haben. Hier wird mit juristischen Mitteln versucht, die sozialen Proteste zu marginalisieren und zu kriminalisieren. Wir rufen deshalb die Politiker dazu auf, diesem Gesetz nicht zuzustimmen. In Chile müssen ganz im Gegenteil die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht gestärkt werden. Wir werden also zu Protesten gegen diesen Gesetzentwurf aufrufen.

2012 wird in Chile, zumindest auf kommunaler Ebene, gewählt. Wie sich die Studentenbewegung in diese politisch bewegten Monate einfügen?

Camila Vallejo: Wir können die Kommunalwahlen natürlich nicht ignorieren, und wir werden auch in der ­CONFECH darüber debattieren, wie wir dies genau angehen wollen. Aber die Studentenbewegung ist keine parteipolitische Bewegung, dazu ist sie viel zu heterogen. Wir werden also nicht dazu aufrufen, Kandidat X zu wählen oder Kandidat Y nicht zu wählen. Wir denken, daß dies nicht unsere Aufgabe ist. Trotzdem werden wir genau beobachten, wie sich die Politiker gegenüber der Studentenbewegung verhalten und wer diese populistisch für sich zu nutzen versucht. Wir haben nicht vergessen, wer uns im vergangenen Jahr unterstützt hat und wer nicht.

Camila, du reist in den nächsten Wochen erneut nach Europa. Was genau steht auf deiner Agenda?

Camila Vallejo: Noch habe ich keinen genauen Reiseplan, aber dieser Besuch wird ebenfalls im Zeichen der Reflexion der Studentenbewegung stehen. Ich werde mich in Deutschland, Schweden, in der Schweiz und in Italien mit anderen jungen Kommunisten treffen sowie mit Mitstreitern der Studentenbewegung. Hierbei werden wir bei verschiedenen Veranstaltungen, Treffen und Aktivitäten das Jahr 2011 aus unserer Perspektive analysieren. Dabei werde ich mich mit Arbeitern treffen, mit Mitgliedern anderer Studentenorganisationen aus diesen Ländern, mit Politikern und Abgeordneten, sowie mit Chilenen, die dort leben. Ich bin sehr gespannt und freue mich auf diese Reise.

Interview: Marinela Potor, Santiago de Chile

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2012


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