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Wasserkraft contra Nationalpark

Demonstrationen und Rechtsstreit gegen Staudämme in Südchile

Von Jan Tölva *

Wasserkraft hat so manche Vorteile: Sie ist gut regelbar, kann Netzschwankungen ausgleichen und verbraucht nur beim Bau fossile Energieträger. Der Haken: große Staudämme greifen tief in die Natur ein, in Erdbebengebieten erhöhen sie das Risiko von Katastrophen. Ein Mammutprojekt im Süden Chiles sorgt vor Ort für erhebliche Kontroversen.

Unter dem Namen HidroAysén sollen in zwei Andentälern Südchiles fünf Wasserkraftwerke errichtet werden, die für die Minen und die großen Städte weiter nördlich Strom liefern sollen. Nach der geplanten Fertigstellung im Jahre 2020 soll das Staudammprojekt, das umgerechnet über zwei Milliarden Euro kosten wird, über 20 Prozent des Elektrizitätsbedarfs Chiles decken. Den Menschen in der Region versprechen die Betreiberfirmen Endesa und Colbún darüber hinaus Arbeitsplätze und infrastrukturelle Verbesserungen. Das Projekt hat jedoch gravierende Nebenwirkungen. Das aufgestaute Wasser der Flüsse Baker und Pascua würde, wenn das Projekt wie geplant umgesetzt wird, 59 Quadratkilometer Land überfluten. Sechs Nationalparks und elf Naturschutzgebiete wären teilweise betroffen ebenso wie sechs Siedlungen der Mapuche, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe des Landes. Doch gegen das Prestigeprojekt regt sich Widerstand.

Umfragen zufolge sind beinahe drei Viertel der Chilenen gegen das Projekt. Seit der offiziellen Genehmigung des Bauvorhabens durch Präsident Sebastián Piñera im Mai kommt es im ganzen Land regelmäßig zu Demonstrationen und Protestkundgebungen. Allein in der Hauptstadt Santiago waren daran bis zu 40 000 Menschen beteiligt. Die Gegner von HidroAysén werfen den für das Projekt Verantwortlichen vor, bei der vorgelegten Umweltverträglichkeitsstudie getrickst zu haben. Dieser Meinung ist auch Claudio Meier, Ingenieur an der Universität von Concepción und ein Experte für die Umweltbeeinträchtigungen durch Wasserkraftprojekte, der von behördlicher Seite mit der Sichtung der Studie beauftragt worden war. Sein Urteil fiel ziemlich vernichtend aus. Er sprach von »anekdotenhafter Datenlage« und kam zu dem Schluss, dass der Studie ein grundlegendes Verständnis des Funktionierens eines Ökosystems abgehe. Andere Kritiker weisen darauf hin, dass bei der Planung die Auswirkungen der benötigten über 3000 Kilometer an neuen Hochspannungsleitungen nicht berücksichtigt worden seien.

Fürs Erste jedoch ist das ganze Projekt auf Eis gelegt worden. Ein Gericht in Puerto Montt hat am 20. Juni angeordnet, dass alle Bauarbeiten ruhen müssen, solange das Gerichtsverfahren noch läuft, das klären soll, ob bei der Umweltverträglichkeitsstudie des Projekts alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Wie lange dieser Prozess andauern und wie er ausgehen wird, ist zur Zeit noch ungewiss.

Der Mitte-Rechts-Regierung um Piñera scheint jedoch einiges an der Umsetzung des Vorhabens zu liegen. Experten prognostizieren, dass der Energiebedarf Chiles sich in den kommenden zehn Jahren verdoppeln wird, und bereits jetzt ist das Land bei der Deckung seines Bedarfs zu 75 Prozent vom Import fossiler Brennstoffe aus dem Ausland abhängig. Kernenergie ist nach Fukushima keine Option mehr und den erneuerbaren Energiequellen wie Solar- oder Windenergie traut die Regierung nicht zu, den Bedarf so schnell decken zu können.

Es geht hier offenbar um eine Grundsatzfrage: Was ist wichtiger – Wirtschaftswachstum oder der Schutz eines einmaligen Ökosystems? Zu welcher Antwort Piñera tendiert, der selbst milliardenschwerer Geschäftsmann und Hauptanteilseigner der chilenischen Fluggesellschaft LAN ist, scheint offensichtlich.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2011


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