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Repressionsgesetze in Chile

Proteste gegen Neuregelung des Demonstrationsrechts

Von Marinela Potor, Santiago de Chile *

Chiles Oberster Gerichtshof in Santiago hat schon vieles gesehen: Tränen, Geschrei, Gewalt, Wut. Doch normalerweise spielen sich diese Szenen im Gerichtshof ab. Anders am vergangenen Donnerstag, als rund 200 aufgebrachte Menschen lautstark vor dem Gerichtshof protestierten. Grund für den Tumult in Santiagos Innenstadt ist ein Gesetzentwurf des chilenischen Innenministers, Rodrigo Hinzpeter von der rechtskonservativen Regierung von Präsident Sebastián Piñera. Obwohl schon im Oktober 2011 auf den Weg gebracht, haben die traditionellen chilenischen Medien darüber bislang kaum berichtet, die Opposition schweigt sich dazu aus, und auch in der Öffentlichkeit war das Gesetz zur Verschärfung des Demonstrationsrechts, auch bekannt als »Ley Hinzpeter«, bisher wenig bekannt. Denn so richtig hatte keiner geglaubt, daß dieser Gesetzentwurf die erste Instanz passieren würde. Doch die Abgeordnetenkammer segnete den Entwurf am 21. Dezember ab, und nun wird dieser im Senat sowie im Parlament behandelt werden.

Hinzpeter will einige Kernpunkte im aktuellen Demonstrationsrecht verändern. So soll die Störung des öffentlichen Friedens künftig härter bestraft werden. Für Behinderungen des Transportwesens, von Notfalldiensten in Krankenhäusern oder der Strom- und Gaszufuhr wurden bisher meist Geldstrafen verhängt, nur in schweren Fällen gab es Gefängnisstrafen. Künftig sollen diese Vergehen mit Gefängnisstrafen von 541 Tagen bis zu fünf Jahren belegt werden. Zudem sollen diese Strafen auch auf die Organisatoren der Proteste ausgeweitet werden können. Außerdem sieht der Entwurf eine Neuregelung der Beschlagnahme von Informationsmaterial vor. Jegliches Bild-, Audio- oder Videomaterial, das den Behörden verdächtig erscheint, soll ohne richterliche Genehmigung konfisziert werden können. Zur Durchsetzung derartiger Maßnahmen sollen auch Büros oder Wohnungen von Journalisten durchsucht werden können – ebenfalls ohne richterlichen Beschluß. Diesen letzten Teil hat der Innenminister nach massiven Protesten von Journalisten bereits wieder aus der Vorlage herausgenommen. Doch auch der Rest ist höchst problematisch, erklärt Jean Pierre Matus, Juraprofessor an der Universidad de Chile. »Die Klauseln sind so schwammig formuliert, daß die Gefahr des Mißbrauchs oder der willkürlichen Interpretation sehr groß ist.« Denn »den öffentlichen Frieden stören« könne vieles sein – vom Einschmeißen eines Ladenfensters bis zum lauten Singen auf einer Demonstration. Doch nicht nur das. Jean Pierre Matus erklärt weiter: »In der letzten Instanz entscheidet das Innenministerium, ob ein Fall verfolgt wird oder nicht. Das geht gegen jegliche demokratische Gewaltenteilung.« Tatsächlich gab es Anfang des 20. Jahrhunderts schon einmal ein derartiges Gesetz in Chile. Dieses wurde erst nach der Militärdiktatur abgeschafft. Hinzpeter hatte den Entwurf nach vermehrten Ausschreitungen während der Studentenproteste initiiert. Sein Argument: Die Proteste seien von aggressiven Gewalttätern ausgegangen und die Polizei habe keine ausreichende Befugnis, um dagegen vorzugehen.

Nach der Zustimmung durch die Abgeordnetenkammer werden nun Bürgerrechtler, soziale Bewegungen und Journalisten aktiv und rufen Politiker aller Parteien auf, gegen das Gesetz zu stimmen. Für Alisa Aravena, eine der Teilnehmerinnen an der Demonstration am Donnerstag, ist das Gesetz eine weitere Schikane der Regierung, um die Mobilisierung von Regierungsgegnern und die Meinungsfreiheit einzuschränken. »Das Schlimmste ist, daß die Leute nicht informiert sind und gar nicht verstehen, was dieses Gesetz für die Chilenen bedeutet«, beklagt sie. Die Studentenorganisation der Universidad de Chile (FECH) hatte zu der Kundgebung aufgerufen. »Wir lehnen diesen Gesetzentwurf kategorisch ab und werden alles tun, was wir können, damit er nicht in Kraft tritt!«, erklärt FECH-Präsident Gabriel Boric gegenüber junge Welt. Und auch, wenn bisher verhältnismäßig wenig Demonstranten gekommen sind, ist Alisa Aravena zuversichtlich: »Die Studentenmärsche haben auch so angefangen, mit wenigen Teilnehmern. Heute sind wir einige hundert, und in einigen Monaten werden wir Tausende sein.«

* Aus: junge Welt, 23. Januar 2012


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