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Die Rückkehr der Pinguine

Zehntausende Schüler und Studenten sind in Chile wieder auf der Straße. Präsident Piñera: Bildung bleibt Investition. Grundlegende Reform nicht vorgesehen

Von Johannes Schulten *

Falsches Spiel kann man Sebastián Piñera wahrlich nicht vorwerfen. Zu Beginn vergangener Woche hatte sich der chilenische Präsident erstmals mit einem konkreten Angebot an die seit Wochen protestierenden Schüler- und Studenten gewandt. Doch er versuchte gar nicht erst, das »Große Nationale Bildungsabkommen« als mehr als ein Paket weniger Zugeständnisse zu verkaufen. »Bildung« sei zwar wichtig, um Chancen im Leben zu nutzen, stellte Piñera am Mittwoch klar, bleibe aber immer auch ein »Konsumgut« und eine »Investition«. Eine Abkehr der Bevorteilung privater Träger gegenüber den völlig unterfinanzierten öffentlichen Schulen und Universitäten werde es mit ihm nicht geben.

Genau das fordern die Schüler und Studenten, die mit ihren täglichen Protesten die konservative Regierung nach nur 16 Monaten im Amt in eine tiefe Krise gestürzt haben. Sie wollen »ein Recht auf freie, für alle zugängliche und qualitativ hochwertige Bildung«, wie es am Donnerstag 300 chilenische Intellektuelle und Schriftsteller in einem offenen Brief an den Präsidenten formulierten, kurz: Sie fordern eine Komplettreform des chilenischen Bildungssystems.

Piñeras Plan sieht dagegen »lediglich« vier Millionen Euro an zusätzlichen Investitionen vor sowie eine Erhöhung der Zahl der staatlichen Stipendien und Vereinfachungen beim Zugang zu Studienkrediten. Aufgrund der im lateinamerikanischen Vergleich extrem hohen Gebühren, die auch von staatlichen Universität erhoben werden, ist ein Großteil der Chilenen auf Darlehen von Kreditinstituten angewiesen. Wer etwa an der traditionsreichen Universidad de Chile, der größten Hochschule des Landes, studieren will, muß umgerechnet knapp 4200 Euro im Jahr berappen.

Studenten und Schüler verurteilten die Vorschläge direkt nach Bekanntwerden als »Kosmetik«. Sie forderten ein ernstes Verhandlungsangebot. Um dieses zu unterstreichen, gingen am Mittwoch acht Studenten in den Hungerstreik, am Donnerstag kamen zwölf weitere dazu.

Die Kritik am elitären Bildungssystem ist nicht neu in Chile. Seit 2006 mehr als eine Million Schüler die größte soziale Protestwelle der letzten 20 Jahre entfachten, ist die Forderung nach kostenlosem und offenem Zugang zu Schulen und Universitäten Dauerbrenner. Nun sind die Pinguine, wie sie wegen ihrer Schuluniformen genannt werden, zurück, gemeinsam mit den Studenten.

Die andauernden Proteste machen Piñera zusehends zu schaffen. Die Zustimmungswerte des Staatschefs waren im Juni auf nur noch 31 Prozent gefallen. Bereits Anfang der vergangenen Woche sah er sich zum zweiten Mal zu einer Kabinettsumbildung gezwungen. Acht Minister wurden ausgetauscht, darunter auch der ungeliebte Bildungsminister Joaquín Lavín.

Zusätzlich unter Druck gerät er durch die Streiks der Minenarbeiter der chilenischen Nationalen Kupfergesellschaft (CODELCO). Knapp 17000 Beschäftigte waren vor etwa zwei Wochen in einen Ausstand gegen die von der Regierung geplante Privatisierung ihres Unternehmens getreten.

Die Wurzeln der Misere im Bildungssystem liegen in der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990). Bereits Ende der 70er Jahre wurde die Verantwortung für die Schulen den Gemeinden übergeben, was vor allem die finanzschwachen Städte vor erhebliche Probleme stellte, ihre Einrichtungen zu unterhalten. In den 80er Jahren führte Pinochet großzügige Subventionierungen von Privatschulen ein, um den Sektor interessanter für private Investoren zu machen. Gesetzlich festgeschrieben wurde die Ausrichtung des chilenischen Bildungssystems auf die Privatwirtschaft schließlich durch das »Organisch-konstituionelle Bildungsgesetz« (LOCE), das Freiheit als oberstes Prinzip der Bildung definiert. Den Generälen erschien dieses Gesetz so wichtig, daß sie es am 10. März 1990, dem allerletzten Tag der Diktatur, verabschiedeten.

Die Bildungslandschaft ist heute durch eine klare Dreiteilung gekennzeichnet. Ein leistungsfähiger, ziemlich teurer und für die breite Masse nicht zugänglicher Privatsektor, ein staatlich bezuschußter halbprivater Bereich und ein völlig unterfinanzierter öffentlicher Sektor, der von den Gemeinden betrieben wird.

Das LOCE wurde zwar nach dem »Aufstand der Pinguine« 2006 von der sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet durch ein neues Gesetz ersetzt, am grundlegenden Charakter des Systems hat sich jedoch nach Meinung der Betroffenen nichts geändert.

Genauso wie an der Dialogbereitschaft der Politik: In seinem ersten offiziellen Statement forderte der neue Bildungsminister Felipe Bulnes die Schüler und Studenten auf, nach Hause zu gehen und sich auf den Hosenboden zu setzen.

* Aus: junge Welt, 26. Juli 2011


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