Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Militär kauft sich seinen Nachwuchs"

Militärexpertin Verónica Valdivia Ortíz de Zárate fordert die Abschaffung des Wehrdienstes in Chile *


Für eine kostenfreie Bildung fehle Geld, argumentiert die chilenische Regierung. Anderseits gibt sie jährlich sieben Milliarden Euro für die Streitkräfte aus. Mit der Militärexpertin VERÓNICA VALDIVIA ORTÍZ DE ZÁRATE von der Universität Diego Portales in Santiago de Chile sprach für »nd« NILS BROCK.

Die chilenische Politik folgte während der Diktatur (1973-1990) einer militärischen Logik. Wie groß ist der Einfluss der Streitkräfte heute, nach mehr als zwei Jahrzehnten zivilen Regierens?

Die Militärs hatten auch in den 1990er Jahren noch eine ungeheure Machtfülle und sind bis heute ein gewichtiger Akteur. Die politische Stärke der Streitkräfte entspringt ihren institutionellen Beziehungen, vor allem den engen Kontakten mit rechten Parteien.

Für seinen Fortbestand ist das Militär zugleich ständig auf Nachwuchs angewiesen, Eine allgemeine Wehrpflicht gibt es in Chile jedoch nicht mehr, oder?

Nach der Rückkehr zur Demokratie gab es zahlreiche Versuche, die Wehrpflicht flexibler zu gestalten, die während der Militärdiktatur auf zwei Jahre erweitert worden war. Der Dienst an der Waffe war geprägt von Nötigungen. Die Jugendlichen wurden gezwungen, an repressiven Aktionen teilzunehmen. Nach dem Machtwechsel, unter Führung des Mitte-Links-Bündnisses der Concertación (1990-2010) wurde dann versucht, den Wehrdienst von diesen Charakteristiken zu befreien. Er sollte freiwillig sein. Das wurde nicht ganz erreicht. Heute werden aber zunächst nur Freiwillige rekrutiert und nur im Fall, dass damit die jährliche Quote nicht erfüllt wird, werden weitere Jugendliche eingezogen.

Wie bringt man Menschen freiwillig dazu, sich eine Uniform anzuziehen? In Deutschland gibt es eine Debatte über Vorträge der Bundeswehr an Schulen. Wird in Chile nicht noch viel aggressiver rekrutiert?

Zumindest an den Schulen wird nicht rekrutiert. Dafür gibt es ein Marketingprogramm, in dem die Vorzüge des Wehrdienstes beschrieben werden. Das Militär schaltet jedes Jahr Propaganda und Werbung im Fernsehen, wenn neue Rekruten gesucht werden. Jugendliche können während des Wehrdienstes einen Beruf erlernen oder Unterstützung zum Bausparen erhalten. Wahrgenommen wird dies meist von armen Jugendlichen, die nicht die Mittel haben, um sich höhere Bildung zu leisten, keinen Job finden oder keine eigene Wohnung haben.

Das Militär bietet nur rudimentäre Ausbildungen als Kraftfahrzeugfahrer, Mechaniker oder Maurer an. Die meisten Rekruten haben die Oberstufe an öffentlichen Schulen abgeschlossen. Die sind jedoch so schlecht, dass viele Abgehenden nicht für einen regulären Ausbildungsplatz qualifiziert sind. Zum Militär zu gehen, ist für viele junge Menschen die letzteChance, doch noch eine Lehre zu machen. Umstritten bleibt bis heute, inwiefern diese Abschlüsse aber auch im zivilen Leben anerkannt werden sollten.

Im Vergleich zu den deutschen Militärausgaben liegen die dafür in Chile aufgewendeten Mittel anteilig am Bruttoinlandsprodukt fast doppelt so hoch. Die chilenische Regierung hat 2011 angekündigt, diese Kosten zu senken. Ist seitdem etwas geschehen?

Es ist ein hartes Ringen. Eine Begründung des Militärputsches 1973 war ja unter anderem die Unterfinanzierung der Streitkräfte, weil zivile Regierungen davon nichts verstünden. Deshalb wurde während der Diktatur ein fixer Prozentsatz der Kupferrente für die Finanzierung des Militärs festgelegt. Die Concertación versuchte während ihrer Regierungszeit erfolglos, diesen Betrag zumindest zu deckeln. Seit 2011 konzentriert sich in Chile die politische Debatte nun auf die Bildungsreform, und das Thema des hohen Militärbudgets wurde nicht systematisch weiterverfolgt.

Warum hat die Studierendenbewegung nie vorgeschlagen, das hohe Militärbudget für gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben umzuverteilen?

Der Fokus der Studierenden liegt eher auf einem qualitativen Wandel der Bildung, der durch eine groß angelegte Steuerreform finanziert werden soll. Einige radikalere Stimmen haben auch Verstaatlichungen von Unternehmen gefordert, die Ressourcen ausbeuten. Aber eine Reduzierung des Militärbudgets hat bisher niemand direkt angesprochen. Statt eine Umverteilung zu diskutieren, geht es den Studierenden auch eher darum, Bildung zunächst als soziales Recht zu reetablieren und nicht als käufliche Ware.

Sind im Verlauf der Studierendenproteste in der Rechten auch Stimmen laut geworden, das Militär zur Aufstandsbekämpfung einzusetzen?

So weit ist es noch nicht gekommen. Aber es wird sehr wohl versucht, gesetzlich den Handlungsspielraum des Staates für Repressalien zu erweitern. In der Folge wäre es möglich, Demonstrationen dann direkt als Angriff auf die innere Sicherheit oder terroristische Akte zu deklarieren und zivile Rechte einzuschränken sowie höhere Haftstrafen zu verhängen, als sie im zivilen Strafgesetzbuch vorgesehen sind. Nicht der Aktionsradius der Streitkräfte per se wird erweitert, sondern die Gesetzeslage soll so umgestaltet werden, dass repressive Einsätze der Ordnungskräfte insgesamt erleichtert werden.

Das hört sich sehr beunruhigend an. Unterstützen Sie die Forderung nach Bildung und Forschung ohne Militärs?

Ja natürlich. Wir müssen alle auf friedliche Beziehungen hinarbeiten, bei denen Konflikte diplomatisch gelöst werden. In Chile gilt der Wehrdienst als Maßnahme für die Verteidigung des Landes und als Instrument der staatsbürgerlichen Bildung. Das halte ich für unzeitgemäß. Ich bin für einen freiwilligen, zivilen Dienst. Wer sich persönlich auf den Krieg vorbereiten will, bitte schön. Aber für eine militärische Laufbahn darf es keine Vorzüge geben, denn auf diese Weise werden Jugendliche kooptiert und gekauft.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Juni 2013


Zurück zur Chile-Seite

Zurück zur Homepage