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"Drei Viertel der Chilenen sind hochverschuldet"

Chile gilt als wirtschaftliches und politisches Musterland. Der Blick hinter die Kulissen zeigt ein anderes Bild. Ein Gespräch mit Christoph Senza

Christoph Senza ist Direktor des alternativen chilenischen Radiosenders »La Voz« (Die Stimme) *



Chiles Präsidentin Michelle Bachelet hat Ihr Land bei Ihrer Regierungsbilanz unlängst als modernes Land präsentiert. Tatsächlich scheint sich auch vieles verbessert zu haben. Im öffentlichen Nahverkehr werden moderne Busse eingesetzt, an den Stadträndern sind Neubausiedlungen zu sehen. Trotzdem haben Sie am 21. Mai an den traditionellen Protesten zur Regierungserklärung teilgenommen. Was gibt es zu kritisieren?

Zunächst stimmt es, daß Chile ein »modernisiertes« Land ist. Die »Modernisierung« ist in vollem Gang, sie ist das Zauberwort, das alles rechtfertigt: Privatisierungen bisheriger Staatsbetriebe oder jüngst auch die neoliberalen Freihandelsabkommen, vor allem mit Ländern Asiens. Die Frage, die wir stellen, lautet aber: Um welchen Preis geschieht das? In Chile leben wir nur noch, um zu arbeiten und zu konsumieren. Keiner kann sich dieser Kultur mehr entziehen, vor allem seitdem wir zu dem »Segen« gekommen sind, Kreditkarten benutzen zu können. Drei Viertel der Chilenen sind hochverschuldet, jeder versucht, seine Probleme individuell zu lösen. Wir haben unseren Glauben an die soziale Gemeinschaft verloren.

Die Regierung sagt, daß es heute mehr Arbeitsplätze gibt.

Das stimmt sogar. Unsere Wirtschaft wurde angekurbelt. Aber auch hier muß gefragt werden, wer profitiert. In Chile ist heute alles privatisiert: die Wasserversorgung, das Gas, die Sozialversicherungen und Rentensysteme, die Universitäten. Die privaten Firmen --meist aus dem Ausland! -- bestimmen, wieviel man verdient und wie lange gearbeitet wird. Schauen wir doch auf die offiziellen Zahlen: Fast die Hälfte der Chilenen verdient weniger als 260000 Pesos (rund 350 Euro) im Monat. Der Mindestlohn liegt bei 150000 Peso (200 Euro). Oft reicht der Lohn gerade für Miete und Nebenkosten. Dazu kommen die Preissteigerungen der letzten Zeit, vor allem bei den Grundnahrungsmitteln. Also arbeiten die Frauen auch, oft in prekären Verhältnissen und bis spät in der Nacht. Sie finden Anstellungen als Verkäuferinnen oder sie kontrollieren Fahrscheine. In der Folge gibt es praktisch kein Familienleben mehr. Für die Kinder ist das katastrophal. In der Hauptstadt Santiago de Chile steigt der Drogenkonsum stetig an, gerade in den ärmeren Vierteln.

Gibt es denn keine Interessenvertretungen der Arbeiter?

Nur acht Prozent der Arbeiter sind in Gewerkschaften zusammengeschlossen.

Zurück zur Regierungserklärung der Präsidentin vom 21. Mai: Bachelet pries vor allem die Verbesserung der Wohnsituation. Fast jeder Haushalt sei bald an Wasserversorgung und Kanalisation angeschlossen, und es würden ständig neue Siedlungen gebaut. Sind das denn nicht Verbesserungen?

Auch hier ist das Grundproblem der Ungleichheit ungelöst geblieben. Schauen wir uns an, wer am 21. Mai protestiert hat. Unter den Teilnehmern befand sich etwa eine »Organisation der Verschuldeten im Wohnungsbereich«. Diese Leute organisieren sich, weil sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Sie haben für diese schönen Neubauwohnungen der Regierung Kredite aufgenommen, die sie wegen der steigenden Zinsen nun nicht bezahlen können. Die neuen Siedlungen liegen oft weit außerhalb der Städte, vor allem im Fall von Santiago. Die Leute müssen stundenlange Busfahrten in Kauf nehmen, um zur Arbeit zu kommen.

Wie sieht es im Bildungswesen aus? Auch dort soll es Verbesserungen gegeben haben.

Diese Behauptung ist ein Hohn. Bachelet hat angekündigt, im kommenden Jahr die Gebühren für die Aufnahmeprüfung an den Universitäten abzuschaffen. Aber wer kann in Chile überhaupt studieren? Die monatlichen Studiengebühren betragen mehr, als ein Arbeiter im Monat verdient. Viele Chilenen sind schon jetzt von der »Linken« so enttäuscht, daß sie sich wieder den rechten Kräften zuwenden.

Interview: Ruth Thon, Valparaíso

* Aus: junge Welt, 5. Juni 2008


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