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"Brav gewühlt, alter Maulwurf!"

Gespräch mit Patricio Palma. Über die Schüler- und Studentendemonstrationen in Chile, über deren Sprecherin Camila Vallejo und den Unterschied zu anderen Protestbewegungen in der Welt *


Patricio Palma (geb. 1942), mit 15 Eintritt in den Kommunistischen Jugendverband Chiles, Diplomingenieur, Geschichtsstudium und wissenschaftliche Tätigkeit an der Karl-Marx-Universität Leipzig von 1975 bis 1987, Promotion bei dem Historiker Manfred Kossok (1930–1993), Rückkehr nach Chile 1987. Seit 1998 Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der KP Chiles.


Auf der Schüler- und Studentendemonstration am Donnerstag sah ich keine Fahne der KP, am Hauptgebäude der Universität nicht einen Hinweis auf die Kommunisten. Läuft alles ohne die Partei? Wie viele Plakate und Fahnen mit Allende haben Sie gesehen?

Erstaunlich viele, ja. Ich war insofern überrascht, als ich in der Annahme nach Chile gekommen bin, daß die drei Jahre der Unidad-Popular-Regierung unter Präsident Salvador Allende von 1970 bis 1973 nahezu vergessen sind – zumindest ist das die in Deutschland vorherrschende Meinung. Unter Diktator Augusto Pinochet habe das Land danach einen ungeahnten Aufschwung genommen, die Wirtschaft prosperiere, der Mehrheit der Chilenen gehe es besser denn je, heißt es.

Und glauben Sie das? Obwohl das Bruttosozialprodukt erheblich zugenommen hat, etwa 15000 US-Dollar pro Kopf, zählt Chile wegen der ungleichen Verteilung zu den sozial am stärksten gespaltenen Staaten auf dem Kontinent. Der Mehrheit der knapp 17 Millionen Chilenen geht es nicht gut, vier Fünftel aller Chilenen müssen mit weniger als 300.000 Pesos im Monat auskommen, das sind etwas mehr als 400 Euro. Und das bei hohen und ständig steigenden Lebenshaltungskosten...

Gleichwohl: Laut UNO-Bericht belegt Chile in Lateinamerika den ersten Rang beim Human Development Index, dem sogenannten Wohlstandsindikator. Wenn das die Realität wäre: Würden dann an jedem Donnerstag – und das schon seit mehr als vier Monaten – so viele Menschen auf die Straße gehen? Aufschwung und soziale Ungleichheit sind die beiden Seiten einer Medaille! Die Proteste beschränken sich doch nicht auf Santiago und Valparaíso, die beiden größten Städte des Landes, in denen rund die Hälfte aller Chilenen lebt. Und es sind nicht nur Schüler und Studenten unterwegs, Lehrer und Professoren, Tausende Lohnarbeiter, sondern auch das, was man gemeinhin den Mittelstand nennt. Das ist die größte Massenbewegung seit dem Ende der Pinochet-Diktatur Ende der 80er Jahre.

Die Bilder von den Demonstrationen, die in deutschen Zeitungen zu sehen sind – im Fernsehen finden sie kaum statt –, zeigen meist nur Krawalle: brennende Mülltonnen, Steine und Brandflaschen werfende Jugendliche, Wasserwerfer und Tränengaswolken, prügelnde Polizisten und flüchtende Demonstranten ... Randale eben.

Ich weiß nicht, ob das nur daran liegt, daß Pressefotografen dramatische Motive lieben, vielleicht soll damit der Protest auch vorsätzlich medial kriminalisiert werden. Tatsache ist, daß die Demonstrationen stets friedlich und gewaltfrei verlaufen. Am Ende knallen bei einigen Hitzköpfen mitunter die Sicherungen durch, und sie provozieren jene Zusammenstöße, die diese Bilder liefern. Diese Zusammenstöße mit den stark präsenten Carabineros sind von den meisten Demonstranten nicht gewollt, was auch den hohen Zuspruch im Land erklärt. Die jüngsten Meinungsumfragen zeigen, daß über 85 Prozent der chilenischen Bevölkerung mit den Forderungen der Studenten sympathisieren.

Sie sagten, die soziale Lage der meisten Chilenen sei unbefriedigend. Die Arbeitslosigkeit beträgt jedoch nur neun Prozent.

Offiziell. Tatsächlich ist sie fast doppelt so hoch. Wer nur eine Stunde in der Woche einer bezahlten Tätigkeit nachgeht, fällt aus der Statistik raus und gilt als nicht arbeitslos. Aber der unmittelbare Anlaß der Volksbewegung waren nicht die sozialen Probleme, diese rücken erst jetzt ins Zentrum, eher hat es mit einem Lern- und Entwicklungsprozeß zu tun. Und der begann mit den Kämpfen der chilenischen Studenten in den 90er Jahren gegen die von der Pinochet-Diktatur erlassenen Gesetze und für die Demokratisierung der Universitäten. Ein weiterer Meilenstein dieses Kampfes war die sogenannte revolución pinguina, die »Revolution der Pinguine«, vor fünf Jahren, als erstmals die Schulen massiv besetzt wurden.

Revolution der Pinguine?

Das ist eine Anspielung auf die schwarzweiße Uniform der Sekundarschüler. Die Besetzung von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Bildungseinrichtungen 2006 war ein Reflex auf das miserable, reaktionäre Bildungssystem, das in den bis dahin 16 Jahren der Concertación, wie die Zeit des damals regierenden Mitte-Links-Parteienbündnisses genannt wurde, keine wesentliche Veränderung erfahren hatte. Dieses Bildungssystem war eine Erblast Pinochets. Am letzten Tag des Militärregimes – am 10. März 1990 – hatte Pinochet ein Bildungsgesetz, das Orgánica Constitucional de Educación, abgekürzt Loce, erlassen, das die Schulen dem »freien Markt« überantwortete. Die vermeintliche »Freiheit der Lehre« erwies sich schon bald als die Freiheit von Profiteuren, sich dort zu bereichern. Es existiert ein Bildungsbusineß. Dieses Bildungsgesetz und die 1980 verfügte »municipalización« – das heißt die Übertragung der Verantwortung der staatlichen Schulen auf die Kommunen – führte zu einer steten Verschlechterung der Bildung. Besser gestellte Gemeinden können sich gute Einrichtungen und Lehrer leisten, arme hingegen haben kaum Mittel, um den Lehrern einen Mindestlohn zu zahlen und die Schule instandzuhalten. Die Regierungen der Concertación haben wenig dagegen unternommen, sieht man von einigen kosmetischen Operationen ab, und auch ihr Nachfolger Pinera weigerte sich zunächst, die im Mai 2011 wieder auflebenden Proteste überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Sebastián Pinera, seit 2010 Präsident und einer der reichsten Männer des Landes – das US-Magazin Forbes schätzt sein Privatvermögen auf eine Milliarde US-Dollar ...

Der landesweite Schülerstreik am 30. Mai vor fünf Jahren mit rund 800000 Schülern und Studenten endete mit der Bildung einer Expertenkommission, die letztlich zu keinem Ergebnis kam. Die Dimension des Problems war weder begriffen noch beseitigt worden.

Natürlich kehrte danach zumindest oberflächlich Ruhe ein, doch unterschwellig gärte es weiter, es wurde diskutiert und dabei auch in die eigene Geschichte des Landes geschaut. Von diesem Standpunkt aus wirken die Erfahrungen der Allende-Zeit und des Kampfes gegen die Diktatur Pinochets nach. Nur ein Beispiel: Als seinerzeit die Allende-Regierung die Kupferminen verstaatlichte, fanden auch viele Chilenen, daß das zu weit gehe. Nachdem Pinochet alles wieder rückgängig gemacht hat, begreift heute die Mehrheit der Chilenen, daß die Enteignung der ausländischen Konzerne völlig richtig war. Denn: Chile ist mit etwa 30 Prozent an der Weltkupferproduktion beteiligt. Von den zehn größten Kupferminen der Welt befinden sich fünf in Chile. Die Minera Escondida – um nur ein Beispiel zu geben –gehört zu 57,5 Prozent einem australisch-britischen Unternehmen, zu 30 Prozent einem Konzern in Großbritannien, zu zehn Prozent einer japanischen Firma, und die restlichen 2,5 Prozent besitzt eine internationale Finanzgruppe. Etwa drei Viertel des chilenischen Exports ist Kupfer – aber Chile hat davon so gut wie nichts. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der nationalen Ausplünderung durch internationale Konzerne, der herrschenden politischen Verhältnisse in Chile, die solches erlauben, und der eigenen Lebenslage wird von immer mehr Chilenen begriffen.

Ein anderes Beispiel: Wir müssen nicht mehr über die Bedeutung der chilenischen Agrarreform und deren Notwendigkeit heute diskutieren. Bei euch in Deutschland muß ich auch nicht mehr erklären, daß die LPG, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der DDR, ein Fortschritt war, obwohl seinerzeit viele Bauern sich zunächst dagegen wehrten. Schauen Sie sich die erfolgreichen Agrargenossenschaften heute an. Da begreift jeder, daß diese Entscheidung der SED damals richtig und vorausschauend war. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb ausgerechnet in Ihrem Land diese Erfahrungen nicht positiv aufgenommen werden und mancher Ex-Genosse sogar meint, sich dafür rechtfertigen und entschuldigen zu müssen.

Sie haben die Struktur des Bildungssystems angesprochen, können Sie das ein wenig konkreter machen?

Etwa 60 Prozent der Schulen und Universitäten sind in der Hand privater Träger. Insgesamt wird nur ein Viertel des Bildungswesens vom Staat finanziert, drei Viertel müssen die Schüler und Studenten aufbringen, die sich oder/und ihre Eltern damit lebenslang verschulden. Jeder zweite Schüler besucht eine staatliche, also eine von der Kommune finanzierte Einrichtung, 42 Prozent lernen an halbstaatlichen und acht Prozent an privaten Schulen. Dort zahlt man umgerechnet 250 Euro und mehr für einen Monat Schulbesuch. Und diese Selektion über den Geldbeutel setzt sich fort. Die obligatorischen Aufnahmeprüfungen an den Universitäten bestehen fast alle Absolventen der Privatschulen, die von staatlichen Schulen scheitern zu fünfzig Prozent, nur jeder zweite schafft die notwendige Punktzahl.

Wie viele Universitäten gibt es in Chile?

Mehr als 60, aber die meisten – insbesondere die privaten – verdienen die Bezeichnung Alma Mater eher nicht. Ich weiß, wovon ich spreche: Ich habe schließlich zwölf Jahre an der Leipziger Karl-Marx-Universität gearbeitet. Ich habe dort studiert, promoviert und auch gelehrt und weiß darum, wie ein ordentlicher Studienbetrieb aussieht, zumal ohne Studiengebühren, aber mit Stipendium.

Auch Michelle Bachelet, die von 2006 bis 2010 Präsidentin Chiles war und nun eine hohe Funktion bei der UNO bekleidet, hat in Leipzig studiert ...

Na ja, auch wenn sie wenig bis nichts am chilenischen Bildungssystem änderte, sollten wir nicht ungerecht sein, ich muß sie ein wenig in Schutz nehmen: In vier Jahren Präsidentschaft kann ein Einzelner nicht eine ganze Gesellschaft, die Milton Friedman und seine Chicago Boys grundlegend veränderten, umgestalten.

Der US-Ökonom Friedman traf sich 1975 mit Pinochet in Chile.

Der Mann machte Chile zum Labor für seine neoliberalen Wirtschaftsideen, hier setzte er erstmals mit Hilfe der hiesigen Oligarchie eine reaktionäre, unmenschliche Marktwirtschaft brutal durch, deren grandioses Scheitern wir derzeit weltweit beobachten. Ich denke, daß darum nicht zufällig in Chile dieser gesellschaftliche Aufbruch erfolgt.

Auch in London, Madrid, Tel Aviv und anderswo protestieren Menschen.

Das ist richtig. Der Unmut ist global, vielerorts erfolgt Auflehnung gegen dieses grausame System, Chile ist nur ein Teil des weltweiten demokratischen Proteste. Dennoch hat die Bewegung hier einen besonderen Charakter.

Inwiefern?

Ich sagte bereits, daß es scheinbar harmlos mit Schüler- und Studentenprotesten anfing. Diese richteten sich zunächst gegen das neoliberale Bildungssystem, gegen dessen Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Die Schüler und Studenten forderten Bildung für alle, was die Abschaffung der Schul- und Studiengebühren einschloß, einen Schülerausweis, der die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs jederzeit und nicht nur zu bestimmten Stunden und auf bestimmten Strecken gestattete, die Erhöhung der Lebensmittelrationen an den Schulen und dergleichen.

Daraus entwickelte sich schließlich die Forderung nach Abschaffung des bestehenden Bildungssystems. »Y va a caer, y va a caer, la educación de Pinochet!« – »Pinochets Bildungspolitik muß weg! Und sie muß weg!«, skandierte man im Juni auf den Straßen. Daraus entwickelte sich nach und nach eine Bewegung für demokratische Freiheiten und Rechte: das Recht auf Bildung, das Recht auf bezahlbare gesundheitliche Betreuung, das Recht auf Arbeit und angemessene Entlohnung, das Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung und so weiter. Deswegen schlossen sich den demonstrierenden Schülern und Lehrern wichtige gesellschaftliche Organisationen an, etwa die Konföderation der Arbeiter, Vereinigungen von Beamten, von Beschäftigten des Gesundheitswesens, von Umweltorganisationen und Tausende unabhängige Bürger. Die Demonstranten verlangen, daß mit der Bildung keine Profite mehr gemacht werden dürfen. Konkret fordern sie eine neue Verfassung, schließlich gilt noch immer die von Pinochet geschriebene, ferner ein neues Wahlgesetz, ein neues Steuerrecht und grundlegende Änderungen des Arbeitsrechts ...

Mit einem Wort: Sie fordern eine andere Gesellschaft.

So ist es. Auf dem Wege der Demokratisierung und der Reform soll Chile verändert und umgestaltet werden. Wie schon gesagt, Umfragen zufolge teilen etwa 85 Prozent der Chilenen die Forderungen der Schüler und Studenten, sie sympathisieren mit der Protestbewegung. Obwohl das natürlich nicht bedeutet, daß sozialer Wandel gleich zu haben sein wird.

Warum bricht dieser Veränderungswille derzeit mit solcher Wucht durch?

Das liegt daran, daß in den zwei Jahrzehnten Concertación, das heißt des Übergangs von der Militaerdiktatur zur Demokratie, Stillhalten und Genügsamkeit eingefordert wurden. Man praktizierte eine Politik, wie es hieß, »im Rahmen des Möglichen«, einen Konsens zwischen den rechten Parteien und der Concertación. Damit wurden von den Herrschenden politischer Widerspruch und Protest kontrolliert oder verhindert. Der Druck wuchs dennoch stetig, er war immer da. Auf diesem Weg gab es viele wichtige Streiks in den Kupferminen, von Waldarbeitern, Lehrern und von der Bewegung unserer indigenen Völker um ihre Rechte. Vor allem die nationalen Streiks, die von der CUT, dem chilenischen Gewerkschaftsbund, ausgerufen wurden, zeigten den flächendeckenden Unmut. Deshalb bedurfte es nur eines auslösenden Impulses. Den haben die Schüler, Studenten und Lehrer geliefert - mit Witz und Ausdauer und neuen Protestformen. In den Demonstrationszügen agieren Schauspielertrupps, Trommler und Musikgruppen, bunt kostümierte Mädchen und Jungen, originelle Agitationstrupps, man singt und tanzt. Es gab einen 15tägigen Marathon rund um die Moneda, den Präsidentenpalast, daran beteiligten sich rund um die Uhr 18000 Läufer. Es finden Seminare statt, Schulen, Universitätsgebäude, werden kurzzeitig besetzt ... Vieles erscheint spontan, was es aber nicht ist.

Am 23. September waren wieder Hunderttausende auf der Straße –die Polizei sprach lediglich von 60000 in Santiago, objektive Quellen nannten 180000, was nach meinem Eindruck der Wahrheit sehr viel näher kam. Zur selben Zeit spreizte sich Pinera vor der UNO-Vollversammlung, er sprach von einem »noblen Anliegen« der Schüler und Studenten und kündigte eine »wirkliche Revolution« im chilenischen Bildungswesen an. Offenkundig war er ungenügend informiert, denn er wähnte die Protestbewegung bereits erledigt, nachdem an den drei Donnerstagen zuvor wegen der Trauer um die Opfer eines Flugzeugabsturzes vom 2. September die Teilnehmerzahlen rückläufig waren.

Ja, da hatte er sich verspekuliert. Und sein Bildungsminister Bulnes mußte die seit Wochen angekündigten Gespräche mit den Vertretern der Schüler, Studenten und Lehrer nun tatsächlich führen.

Die aber nichts brachten.

Es sei ein schwieriges Treffen gewesen, erklärte nach zwei Stunden der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Jaime Gajardo, übrigens ein wichtiges Mitglied unseres Politbüros. Es habe keineAnnäherung der Standpunkte bezüglich der Reform des Bildungswesens gegeben. Man wolle aber weiter im Gespräch bleiben.

Die übliche Methode, ein Problem auszusitzen.

Das wird hier nicht funktionieren.

Wir sehen, daß Proteste dieser Art in anderen Ländern sich totlaufen, wenn sichtbare Erfolge ausbleiben.

Es gibt einen wesentlichen Unterschied, wie ich meine: große Teile der Bevölkerung verlangen politische Änderungen

Weil die Protestbewegung ein attraktives Gesicht hat: Camila Vallejo?

Die 23jährige Geographiestudentin stieg innerhalb von wenigen Wochen zu einer führenden Persönlichkeit auf, das stimmt. Sie gilt als Sprecherin und Anführerin der Protestbewegung, manche handeln sie bereits als Gegenkandidatin zu Pinera, und der britische Guardian befand, daß seit Subcomandante Marcos – dem Sprecher der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung in Mexiko – kein Rebellenführer Lateinamerikas so bezaubert habe wie Vallejo. Wo sie aufkreuzt, wird sie von Mikrofonen und Kameras bedrängt, die Talkshows reißen sich um sie. Doch sie ist nicht nur hübsch, sondern auch argumentativ sehr überzeugend. Angriffe und Denunziationen, etwa sie sei Kommunistin, folge nur den Weisungen des Politbüros und wolle kubanische Verhältnisse schaffen, begegnet sie offensiv: Neben ihrer Unterstützung des kubanischen Prozesses kämpfe sie dafür, daß es den Chilenen besser geht als derzeit den Kubanern, denn dort gebe es, aus verschiedenen Gründen, noch keinen Kommunismus. Das ist, wenn man den Satz sehr aufmerksam liest, sehr dialektisch gedacht.

Folgt sie den »Weisungen des Politbüros«?

Natürlich hat sie einen eigenen Kopf zum Denken. Sie ist aber, das trifft zu, seit ihrem 18. Lebensjahr Mitglied des Jugendverbandes unserer Partei, der Juventudes Comunistas de Chile, und wurde zuletzt als Mitglied in dessen Zentralkomitee gewählt. Außerdem ist Camila die Präsidentin der Studentenvereinigung der Universität von Chile (FECh) und Sprecherin der Confederación de Estudiantes de Chile (Confech), des Verbandes der Studierenden der traditionellen Universitäten Chiles. Doch diesem organisierenden Zentrum gehören auch andere, nichtkommunistische und kommunistische Studentenführer an, etwa Giorgio Jackson, Kopf der Studentenvereinigung der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile, oder Camilo Ballesteros, Chef der Studentenvereinigung der Universidad de Santiago de Chile, um nur zwei zu nennen.

Aber Sie wollen doch nicht bestreiten, daß die KP einen gewissen Einfluß auf die Proteste hat? Als sich beispielsweise einige Parlamentarier unter die Demonstranten begaben, wurden sie ausgepfiffen und herausgedrängt. Die drei einzigen Parlamentsabgeordneten der KP hingegen wurden mit Beifall aufgenommen.

Das trifft zu. Die Akzeptanz der Politik unserer Partei ist groß, auch der Zuspruch. Wir haben konstatiert, daß die breite soziale Bewegung Träger unserer historischen Politik ist. Täglich schließen sich viele neue Mitglieder uns an, darunter sind viele Rückkehrer. Nicht zu reden von den vielen Kommunisten ohne Parteibuch, die mit uns jahrzehntelang sehr konsequent gegen den Neoliberalismus gekämpft haben. Ich glaube, daß unsere Ausdauer jetzt Früchte trägt. Was Marx im »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« 1852 schrieb, ist auch auf uns anwendbar: »Brav gewühlt, alter Maulwurf!« Darauf sind wir mit Recht ein wenig stolz.

Die Protestbewegung ist sehr breit, das wird politische Probleme geben.

Natürlich. Von den Ultralinken über Anarchisten und Trotzkisten ist alles vertreten, sie haben oft andere Vorstellungen über Strategie und Taktik als wir. Wir haben aber dazugelernt. Im Übrigen ist diese Protestbewegung keine kommunistische und keine exklusiv von Kommunisten gesteuerte, das will ich deutlich sagen.

Aber der Maulwurf arbeitet.

Ja, sicher. Manchmal hören wir Vorwürfe der Art: Warum wart ihr nicht bei der und der Veranstaltung? Alle waren da, nur ihr, die Kommunisten, habt gefehlt. Ich antwortete darauf: Wer hat die Saalmiete übernommen, die Flugblätter gedruckt, die Transparente besorgt, den Busfahrer bezahlt? Unsere politischen Kader arbeiten eng mit den sozialen Organisationen zusammen und stellen ihre Erfahrung als Organisatoren zur Verfügung.

Interview: Frank Schumann

* Aus: junge Welt, 8. Oktober 2011

Generalstreik gegen Repression:

Mit einem weiteren Generalstreik wollen Chiles Studenten und Arbeiter am 19. Oktober gegen die anhaltende Unterdrückung ihrer Proteste durch die Polizei protestieren. Das kündigten der Gewerkschaftsverband CUT und die Lehrervereinigung bei einer Pressekonferenz am Donnerstag (Ortszeit) in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile an. Auch die Vorsitzende des Studentenverbandes FECH, Camila Vallejo, rief ihre Kommilitonen zur Beteiligung an den Aktionen auf. Zuvor waren die paramilitärischen Carabineros erneut mit Tränengas und Wasserwerfern gegen demonstrierende Studenten vorgegangen, die für grundsätzliche Veränderungen im chilenischen Bildungssystem auf die Straße gegangen waren. (PL/jW)




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