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Gedenkmarsch gegen Pinochet und Piñera

Zuversichtlicher denn je begingen chilenische Aktivisten den Jahrestag des Militärputsches

Von Gerhard Dilger, Santiago de Chile *

Das Gedenken an den Militärputsch und den Tod von Salvador Allende 1973 stand am Wochenende im Zeichen der Protestbewegung für freie Bildung in Chile.

Es ist ein frühlingshafter Sonntagmorgen in Santiago. Wie an jedem 11. September haben Chiles Menschenrechtsgruppen zu einem Gedenkmarsch zum Zentralfriedhof aufgerufen. Vor 38 Jahren putschten sich die Generäle unter Führung von Augusto Pinochet an die Macht.

Im Hauptgebäude der staatlichen Universidad de Chile, das Studenten seit drei Monaten besetzt halten, werden letzte Vorbereitungen getroffen. »Es ist der Kampf der ganzen Gesellschaft – alle für kostenlose Bildung« prangt in riesigen weißen Lettern auf einem schwarzen Transparent, das das prächtige Gebäude im Zentrum der Hauptstadt schmückt.

Eine Stunde später hat sich ein bunter Demonstrationszug in Richtung Norden in Bewegung gesetzt. Linke Aktivisten und Menschenrechtler dominieren die Szene, aber auch Umweltschützer, Schwule und Feministinnen marschieren mit. Rote, schwarze und viele rot-blau-weiße Landesfahnen wurden geschwenkt. Auf Schildern und Bannern prangen die Fotos Hunderter »Verschwundener«.

Auch der Gewerkschafter und Menschenrechtler Luis Carreño ist wieder dabei. »Während der Diktatur sind zehn meiner Freunde ermordet worden«, berichtet er. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gehe immer noch sehr schleppend voran, viele Folterer wohnten in Luxusgefängnissen. »Aber die Stimmung ist diesmal anders«, sagte der ergraute Aktivist: »Heute spüre ich, dass sich die Alleen wieder öffnen, wie es Salvador Allende vorhergesagt hat«.

Das Antlitz Allendes prangt auf vielen Fahnen. Unübersehbar sind die Blöcke von Schülern, Studenten und organisierten Lehrern. Sprechchöre schallen rhythmisch durch Häuserschluchten: »Sie wird fallen, sie wird fallen, die Pinochet-Bildung«. Seit Mai sind im ganzen Land Hunderttausende für ein gutes und kostenloses Bildungswesen auf die Straße gegangen, vor zehn Tagen hat der Präsident Sebastián Piñera erstmals Studentensprecher empfangen.

Doch tags zuvor kamen bei einem Flugzeugabsturz im Pazifik 21 Menschen um, darunter ein beliebter Fernsehmoderator. Seither ist es der Regierung mit Hilfe der tonangebenden Medien gelungen, die Bewegung in die Defensive zu drängen. »Doch das ist nur vorübergehend«, ist die Studentin Matilde Méndez sicher. Über den Gedenkmarsch sagt sie: »Diesmal geht es nicht nur gegen Pinochet, sondern auch gegen Piñera. Es ist viel politischer als früher.«

Piñeras Popularität liegt nach anderthalb Jahren Regierungszeit bei 27 Prozent, aber auch das Parteienbündnis zwischen Christ- und Sozialdemokraten steht nun vor dem endgültigen Bruch. »Das politische System ist eine Vererbungsdemokratie, die Presse eine geschlossene Veranstaltung, und die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Politik enorm«, sagt Albrecht Koschützke von der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Auf einem »Kongress der Zivilgesellschaft« im Uni-Hauptgebäude debattieren Akademiker und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen darüber, wie aus dem sozialen Aufbruch ein politischer werden könnte. Sie analysieren die derzeitige Sackgasse, loben die Studenten und beschwören eine Bewegung für eine neue Verfassung. Doch Studenten fehlen im Publikum.

Auf der Straße überwiegt die Zuversicht. Bei der Abschlusskundgebung auf dem Zentralfriedhof redet Studentensprecherin Camila Donato, Enkelin zweier »Verschwundener«. Sie hofft darauf, dass Jung und Alt gemeinsam das »Erbe Pinochets« überwinden können. Schwungvoll ist auch die Gedenkveranstaltung für Salvador Allende, dessen sterbliche Überreste am Donnerstag zum dritten Mal bestattet wurden – nach einer Exhumierung ist die Selbstmordthese definitiv bestätigt. Der brasilianische Menschenrechtler Jair Krischke erinnert daran, wie Chile und Brasilien einander halfen. Auch der Allende-Enkel Pablo Sepúlveda ergreift das Wort. Abschließend spielt die Band »Los Rockers« auf.

* Aus: Neues Deutschland, 13. September 2011


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