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Erdbeben erschüttert Chile

Verzweifelte Suche nach Verschütteten, über 390 Tote, Hilfsangebote aus dem Ausland

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Bei einem schweren Erdbeben in Chile sind mindestens 390 Menschen ums Leben gekommen, Dutzende werden vermisst. Mindestens zwei Millionen Einwohner sind von dem Beben betroffen, teilte das Nationale Katastrophenamt ONEMI mit.

»Das ist die schlimmste Tragödie der letzten 50 Jahre«, sagte die sichtlich bewegte Präsidentin Michelle Bachelet in einer Fernsehansprache. Sie rief die Bevölkerung zu Besonnenheit und Mut auf. Inzwischen hat sich die Präsidentin von einem Hubschrauber aus ein Bild von der Lage gemacht.

Das Beben am frühen Samstagmorgen (27. Feb.) hatte eine Stärke von 8,8 auf der Richterskala und lag damit über demjenigen von Haiti, das am 12. Januar eine Stärke von 7,0 erreichte.

Präsidentin Bachelet rief für die betroffenen Regionen Araucanía, Bío Bío und Maule den Katastrophenzustand aus. Am schlimmsten traf es die Nachbarstädte Talcahuano und Concepción, rund 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. In dem Großraum leben rund eine Million Menschen. Das Epizentrum lag rund 90 Kilometer von Concepción entfernt im Meeresgrund des Pazifischen Ozeans in einer Tiefe von etwa 35 Kilometern. Bisher wurden 70 Nachbeben registriert, von denen drei eine Stärke zwischen 5,2 und 6,9 auf der Richterskala erreichten. Ein Nachbeben erreichte am Sonntagmorgen (28. Feb.) die Stärke von 6,3.

»Es bebte und dann kam das Meer in unser Haus, es reichte uns bis zum Hals«, sagte eine Einwohnerin von Iloca im Süden des Landes. Aus den Orten entlang der Pazifikküste werden zum Teil große Schäden gemeldet. Das Fernsehen zeigt Bilder von zerstörten Häusern und an Land gespülte Boote. Über 1,5 Millionen Häuser und Wohnungen sind zerstört oder beschädigt, so eine Sprecherin des Nationale Katastrophenamts ONEMI. Das ganze Ausmaß werde aber erst in 72 Stunden erkennbar sein.

In der Stadt Concepción vermuten die Behörden noch viele Verschüttete unter den Trümmern eingestürzter Häuser, darunter 100 Menschen in einem 14-stöckigen Hochhaus. Hier wurden bereits 22 Menschen gerettet. Die Stadtbevölkerung verbringt aus Angst vor Nachbeben die Nächte im Freien.

Die von der Katastrophe betroffenen Regionen waren stundenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Die Strom- und Wasserversorgung ist vielerorts noch immer unterbrochen. Auf zahlreiche Landstraßen ist die Asphaltdecke aufgerissen, mehrere Brücken sind unpassierbar oder eingestürzt.

Inzwischen ist es in Concepción zu Plünderungen gekommen. Rund hundert Menschen holten Lebensmittel aus den Supermärkten, aber auch Fernsehgeräte und andere Konsumgüter. »Wir haben keine Milch, wir haben gar nichts für die Kinder«, sagte eine weinende Frau. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Tränengas gegen die Menschen ein.

In der Hauptstadt Santiago wurde der Internationale Flughafen geschlossen, nachdem das Flughafengebäude erheblich beschädigt wurde. Internationale Flüge werden nach Buenos Aires oder Mendoza umgeleitet. Mehrere Gebäude in der Hauptstadt stürzten ein, darunter auch der Glockenturm der Kirche Nuestra Señora de la Divina Providencia. Vielen Stadtautobahnen sind aufgebrochen und Brücken sind beschädigt. Bisher wurden 30 Todesopfer beklagt.

Aus zahlreichen Ländern sind bereits Hilfsangebote eingegangen. »Gestern sind wir Haiti zu Hilfe geeilt, heute spüren wir die Solidarität«, bedankte sich Präsidentin Michelle Bachelet. Generalsekretär Ban Ki Moon sagte von New York aus die Unterstützung der Vereinten Nationen zu.

* Aus: Neues Deutschland, 1. März 2010

Letzte Meldungen

Nach Erdbeben in Chile wächst die Angst vor Gewalt

Nach dem schweren in Chile mit mehr als 700 Toten wächst in den Katastrophengebieten die Angst vor Plünderungen und Gewalt. Die Polizei ging mit Tränengas gegen Plünderer vor, in der Nacht galt in der besonders betroffenen Stadt Concepción im Süden des Landes eine Ausgangssperre. Rettungsteams suchten weiter nach Verschütteten, Staatschefin Michelle Bachelet kündigte Lebensmittellieferungen der Armee an. Das Land bat um internationale Hilfe.

In der 500.000-Einwohner-Stadt Concepción galt bis 6.00 Uhr Ortszeit (10.00 Uhr MEZ) eine Ausgangssperre, um Plünderungen zu verhindern. In der schwer zerstörten Stadt drohte die Armee in Lautsprecher-Durchsagen im Falle von Verstößen mit Festnahmen.

Staatschefin Bachelet verhängte wegen der Plünderungen den Ausnahmezustand über die beiden am stärksten betroffenen Regionen Maule und Bío Bío. Er gelte zunächst für 30 Tage und solle die öffentliche Ordnung garantieren sowie schnellere Hilfslieferungen ermöglichen, sagte die Präsidentin.

In den betroffenen Regionen suchten Rettungskräfte fieberhaft nach möglichen Überlebenden. Aus den Trümmern eines eingestürzten Hochhauses in Concepción konnten die Rettungskräfte zunächst nur acht Leichen bergen. 48 Menschen werden noch in dem Gebäude vermutet.

Durch das Erdbeben am Samstagmorgen und die folgenden Flutwellen kamen mindestens 708 Menschen ums Leben. Die Zahl der registrierten Vermissten nehme ständig zu, weshalb die Totenzahl weiter steigen werde, sagte Bachelet. Etwa zwei Millionen Menschen seien betroffen. Die wirtschaftlichen Schäden des Bebens und der anschließenden Flutwelle wurden auf 15 bis 30 Milliarden Dollar (elf bis 22 Milliarden Euro) geschätzt.

Verteidigungsminister Francisco Vidal räumte ein, die Regierung habe einen Fehler begangen, indem sie nach dem schweren Beben nicht die Gefahr eines Tsunamis in Betracht gezogen habe. Viele Menschen waren von den bis zu 2,60 Meter hohen Flutwellen überrascht worden, deren Wucht Schiffe auf Hausdächer spülte.

Die chilenische Regierung habe eine Prioritätenliste für die notwendigen Hilfsmaßnahmen vorgelegt, sagte die Sprecherin des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA), Elisabeth Byrs, in Genf. Demnach werden für das Katastrophengebiet im Süden Chiles insbesondere Feldlazarette mit Operationsmöglichkeiten, mobile Brücken, Kommunikationsausrüstung und mobile Küchen benötigt. Auch um Teams zur Prüfung der Schäden und zur Koordinierung der Hilfsmaßnahmen bat Chile demnach.

Nachrichtenagentur AFP, 1. März 2010




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