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Folter in der Colonia Dignidad

Chiles Justiz setzt Aufarbeitung der Verbrechen fort / Bundesregierung wortkarg

Von Harald Neuber *

Die schweren Menschenrechtsverletzungen in der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile werden zunehmend juristisch aufgearbeitet. Das Berufungsgericht in der Hauptstadt Santiago de Chile hat erstmals einen Strafprozess wegen systematischer Folterungen in der Siedlung eröffnet. Die Bundesregierung verhält sich weiter wortkarg.

Trotz wochenlanger Medienberichte über die Flucht des langjährigen Arztes und leitenden Funktionärs der Siedlung Colonia Dignidad, Hartmut Hopp, aus Chile nach Deutschland gibt die Bundesregierung vor, nichts Konkretes zu wissen. Hopp – über Jahre hinweg der zweite Mann nach dem inzwischen verstorbenen Siedlungsgründer Paul Schäfer – hatte sich Anfang Mai über Argentinien und Brasilien nach Deutschland abgesetzt. Der 67-Jährige entzog sich damit einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch Minderjähriger in Chile. In Deutschland hat er zunächst nichts zu befürchten: Das Grundgesetz verbietet die Auslieferung deutscher Staatsbürger.

Bereits Anfang Juli ließ die Linksfraktion im Bundestag der Bundesregierung einen umfangreichen Katalog mit fast 70 Fragen zu dem Fall zukommen. Die ersten Antworten nach zweieinhalb Monaten fallen ernüchternd aus. Das Auswärtige Amt teilt darin lediglich mit, dass sich der in Chile rechtskräftig verurteilte Hopp »nach jüngsten Erkenntnissen in der Bundesrepublik Deutschland« aufhält. Mehr Informationen bringt eine einfache Internetrecherche. In Krefeld, wo Hopp und seine Frau nach der Flucht untergekommen sind, beschäftigt sich die Presse seither fast täglich mit dem Fall. In ihrer Antwort will die Bundesregierung davon nichts wissen. Es gebe zu dem Fall keine Kontakte, keine Gespräche und auch kein Ersuchen chilenischer Behörden.

Auch bei anderen heiklen Punkten versteckt sich die Bundesregierung hinter vermeintlicher Unkenntnis. Es sei ihr nicht bekannt, heißt es in der Antwort von FDP-Staatssekretärin Cornelia Pieper, in welchem Ausmaß die Führung der Colonia Dignidad in Waffenhandel und Waffenschmuggel verstrickt war. »Eine dreiste Behauptung«, entgegnet der LINKEN-Bundestagsabgeordnete Jan Korte, dessen Büro die Anfrage eingereicht hatte. Immerhin habe mit dem ehemaligen SS-Mitglied und späteren BND-Mann Gerhard Mertins ein direkter Kontakt zwischen der Sektensiedlung und damaligen westdeutschen Akteuren bestanden. Mertins hatte 1963 gemeinsam mit dem einstigen SS-Standartenführer Otto Skorzeny das Rüstungsexportunternehmen MEREX AG gegründet. Die Colonia Dignidad war einer der zentralen Umschlagplätze für Rüstungsgüter, mit denen nach Darstellung von deutschen und lateinamerikanischen Experten auch rechtsextreme Strukturen wie die Milizen der »Patria y Libertad« (Vaterland und Freiheit) in Chile ausgestattet wurden. Die Bundesregierung »hofft offenbar, das Thema aussitzen zu können«, sagte Korte angesichts der wortkargen Antworten aus dem Auswärtigen Amt.

Doch das wird zunehmend schwieriger. Nach den rechtskräftigen Urteilen gegen Schäfer, Hopp und andere führende Funktionäre ermittelt die chilenische Justiz inzwischen in weiteren Fällen. Dabei geht es um Folter und zahlreiche Morde an Widerstandskämpfern gegen die Pinochet-Diktatur.

In der vergangenen Woche hat das Berufungsgericht in der Hauptstadt Santiago de Chile erstmals einen Strafprozess wegen systematischer Folterungen in der Siedlung eröffnet. Angeklagt sind der deutsche Staatsbürger Gerhard Mücke und der chilenische Geheimdienstler Fernando Gómez Segovia, berichtet das Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika. Sie sollen wegen der wochenlangen Folter der Pädagogin Adriana Bórquez nach dem Militärputsch 1973 zur Rechenschaft gezogen werden. Beim Sonderermittler Jorge Zepeda sind derweil weitere Ermittlungsverfahren anhängig.

Vor diesem Hintergrund fordern nun auch deutsche Menschenrechtsverteidiger ein konkreteres Vorgehen der Justizbehörden. Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), trat der These entgegen, Hopp könne für seine mutmaßlichen Verbrechen wegen Verjährung nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Derart pauschal hätten Ermittlungen nicht abgelehnt werden dürfen, weil gemeinschaftlicher sexueller Missbrauch von Kindern, wie er in der Colonia Dignidad über Jahre hinweg begangen wurde, auch nach deutschem Recht erst nach zwei Jahrzehnten verjährt. Und schließlich gehe es im Fall der Siedlung in Chile unter anderem um Mord – und derartige Delikte müssten auch in Deutschland verfolgt werden, sagte Kaleck im Deutschlandradio. Unlängst erst hatte die Bonner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Hopp nach 23 Jahren stillschweigend eingestellt.

* Aus: Neues Deutschland, 21. September 2011


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