"System von Unterdrückung und Gewalt"
Teilerfolg für chilenische Missbrauchsopfer der Colonia Dignidad
Von Tom Mustroph, Santiago de Chile *
Die Bewohner der einstigen Folterstätte Colonia Dignidad tun sich weiter schwer damit, ihre
Verantwortung für begangene Taten anzuerkennen. Sie nehmen das jüngste Gerichtsurteil gegen 26
Helfer des Siedlungsgründers Paul Schäfer nicht zum Anlass einer Debatte um die Aufarbeitung der
Vergangenheit. Für die Opfer ist das Urteil indes ein bedeutsamer Schritt.
Nur wenig erinnert in der heutigen Villa Baviera noch an die einst abgeschottete Wohnstätte einer
Sekte. Der Schlagbaum steht offen. Die Lettern »Colonia Dignidad« sind gegen »Villa Baviera«
(bayrisches Dorf) ausgetauscht. Besucher werden freundlich empfangen. Udo Hopp, der als 18-
Jähriger im Vorauskommando Paul Schäfers nach Chile kam und bis heute auf dem Gelände wohnt,
freut sich auf deutsche Gäste, beweist aber auch stolz, wie gut er spanisch spricht.
Die Colonos haben sich gegenüber den chilenischen Nachbarn geöffnet. Sie brauchen sie als
Kunden für Hotel und Gaststätte sowie als Arbeitskräfte, weil ihnen selbst die Generation der 20- bis
40-Jährigen fehlt. Unter Schäfers Regime waren Familien auseinandergerissen, Ehen verpönt und
heterosexuelle Aktivitäten in den Bereich des Heimlichen gedrängt. Nach der Flucht und der
Verhaftung Schäfers haben seine einstigen Zöglinge zwar geheiratet und Kinder gezeugt. Diese
Kinder sind aber noch klein.
Manche Chilenen sehen diesen Umstand als berufliche Chance. »Wir arbeiten gern hier. Die
Bedingungen sind gut, die Deutschen sind sehr zuverlässig. Und das Gelände ist landschaftlich
gesehen ein wahres Paradies«, erklärt der Chefkoch Rodrigo Durand, der selbst auf dem Gelände
wohnt. Die Villa Baviera ist auf dem Weg, eine deutsch-chilenische Musterkolonie zu werden.
Unter dieser Oberfläche bricht dennoch immer wieder die Vergangenheit hervor. Während
Angestellte wie Durand mit dem Gedanken spielen, die bizarren Seiten der Deutschensiedlung in
einem Museum mit Trachten, altem Handwerkzeug und Fotos für den Tourismus aufzuarbeiten,
führen die Opfer einen beschwerlichen Kampf um die Anerkennung ihrer Leiden und um
Entschädigung.
Mehrere Hundert Gegner des Pinochet-Regimes wurden nach Justizangaben in der Colonia
Dignidad festgehalten und gefoltert. Menschenrechtsaktivisten gehen von einer dreistelligen Zahl
von sexuell missbrauchten Kindern aus. »Nach unseren Recherchen wurde die Mehrzahl der
männlichen Bewohner der Colonia missbraucht«, erklärt Hernan Fernández gegenüber ND. Der
Anwalt aus Santiago betreut einige Opfer bei dem Prozess in Talca, bei dem in zweiter Instanz 26
Helfer Schäfers zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren verurteilt wurden.
»Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Anerkennung der Qualen der Opfer und zur
Herstellung von Gerechtigkeit«, konstatiert Fernández. Er rechnet mit einer Urteilsbestätigung auch
durch die dritte und letzte Instanz in etwa sechs Monaten.
Damit würde juristisch belegt, dass die Colonia Dignidad ein System von Unterdrückung, sexueller
Erniedrigung und Gewalt war, das nicht nur auf den Neigungen ihres Chefs Paul Schäfer beruhte,
sondern der Hilfe und der Billigung durch größere Teile der Gemeinschaft bedurfte. Bislang wurde
vor allem Schäfer juristisch verfolgt. Er erhielt eine 20-jährige Haftstrafe und starb im April 2010 im
Gefängnis von Santiago.
Gleichzeitig macht das jüngste Urteil die Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung der Dimension des
Missbrauchs deutlich. Zur Verhandlung kamen nur Fälle aus den Jahren 1993 bis 1997. »Frühere
Fälle sind zum Teil verjährt. Viele Opfer aus den 70er und 80er Jahren haben sich nicht getraut,
Anzeige zu stellen. Besonders auf die deutschen Opfer wird viel Druck ausgeübt, um die Vorfälle zu
vertuschen und zu verharmlosen«, sagt Fernández. Das Verfahren, das zu dem Schuldspruch
führte, betrifft allein 26 chilenische Opfer. Fer-nández hält es für ein Armutszeugnis der
bundesdeutschen Gerichtsbarkeit, dass sie die Missbrauchsfälle gegenüber deutschen
Staatsbürgern nicht verfolgt.
In der Villa Baviera wird gegenwärtig auf Zeit gespielt. »Das ist doch noch gar nicht die
entscheidende Instanz. Warten wir ab, was geschieht«, erklärt Udo Hopp, dessen Bruder zu den
Angeklagten gehört. Selbst in den Entschädigungsfonds für die Opfer, den die chilenische
Regierung mit der Villa Baviera ausgehandelt hat, ist nach Angaben von Fernandez noch kein
einziger der vereinbarten 6 Millionen Dollar eingezahlt worden. Mit dieser Haltung drohen die
Verantwortlichen der Villa Baviera des Vertrauen zu verspielen, das sie zu manchen Teilen der
chilenischen Gesellschaft inzwischen aufgebaut haben.
* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2011
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