Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Barrikaden in Chile *

In Chile hat am Mittwoch (24. Aug.) ein landesweiter Generalstreik begonnen, zu dem Gewerkschaften, linke Parteien und Studentenverbände aufgerufen haben. Ziel der Aktion ist die Durchsetzung von Verfassungs- und Gesetzreformen, ein neues Arbeitsrecht, die Rückführung der privatisierten Rentenversicherung in öffentliches Eigentum und mehr staatliche Investitionen in die Gesundheitsversorgung und die Bildung.

Die Proteste begannen am Vorabend in zahlreichen Städten mit einem lautstarken »Cacerolazo«. Diese Aktionsform, bei der die Teilnehmer auf Kochtöpfe trommeln, hatte sich bereits unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) bewährt. Schon in den frühen Morgenstunden wurden gestern zudem in verschiedenen Teilen der Hauptstadt Santiago de Chile Barrikaden errichtet, um die Kundgebungen vor erneuten Übergriffen durch die Polizei zu schützen. Präsident Sebastián Piñera kündigte an, das Staatssicherheitsgesetz gegen die Streikenden anzuwenden. Diese ursprünglich aus dem Jahr 1937 stammende Bestimmung erlaubt es der Regierung, die Armee zur »Aufrechterhaltung der inneren Ordnung« einzusetzen und verdreifacht die Festgenommenen drohenden Strafen. Bereits am Vorabend wurden in der chilenischen Hauptstadt rund 2000 Polizisten stationiert, um die Kontrolle über die Viertel sicherzustellen. An strategisch wichtigen Punkten wie dem Regierungssitz waren paramilitärische Carabineros aufmarschiert.

Der aus Chile stammende Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, kritisierte die angekündigte Anwendung des Sicherheitsgesetzes als »bescheuert«. In diesem Moment dürfe man nicht auf Repression, sondern müsse auf Dialog setzen, forderte er am Dienstag. Auch der Gewerkschaftsbund CUT verurteilte die Kriminalisierung des Streiks durch die Regierung. Diese solle sich zu Verhandlungen über die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der Streikenden bereitfinden. Ziel müsse es sein, die noch aus der Zeit der Diktatur stammende Verfassung zu überwinden. So müßten Volksentscheide als Möglichkeit der Bevölkerung eingeführt werden, direkt über die erhobenen Forderungen nach einer Hochschulreform und einer Wiederverstaatlichung des Kupfers abzustimmen.

Für die Vorsitzende des chilenischen Studentenverbandes FECH, Camila Vallejo, hat der Oberste Gerichtshof des südamerikanischen Landes unterdessen Polizeischutz angeordnet. Die 23jährige Geographiestudentin und Aktivistin der Kommunistischen Jugend ist das bekannteste Gesicht der seit Monaten anhaltenden Bildungsproteste in Chile. Dadurch hat sie sich den Zorn der Rechten zugezogen, die ihr im Internet offen die Ermordung androhen. So ruft über Facebook eine Gruppe zu Angriffen auf die Wohnung der jungen Frau im Süden von Santiago de Chile auf.

* Aus: junge Welt, 25. August 2011


Inspirierend

Camila Vallejo / Die Geografiestudentin gibt dem chilenischen Bildungsstreik ein Gesicht Von Gerhard Dilger **

Links, eloquent und telegen: Camila Vallejo ist das bekannteste Gesicht der chilenischen Schüler- und Studierendenbewegung, die gerade dabei ist, Geschichte zu schreiben. Jetzt trugen sie den Generalstreik des Gewerkschaftsdachverbands CUT mit, an dem sich am Mittwoch und Donnerstag hunderttausende Chilenen beteiligten. Seite an Seite mit CUT-Chef Arturo Martínez feierte Vallejo den Erfolg des Massenprotests und wies die Interpretation zurück, die Arbeiter hätten sich an die Studentenbewegung »angehängt«.

Schon vor Monaten haben die Medien die revolutionäre Schönheit zur Gegenspielerin von Staatschef Sebastián Piñera aufgebaut. In Talkshows schlüpft die 23-jährige Geografiestudentin mit dem Nasenpiercing souverän in die Rolle der Bildungsministerin und wirbt mit klaren Worten für ein hochwertiges, kostenloses Bildungswesen. Den Medien geht sie nicht auf den Leim: »Weil ich schön bin, laden sie mich ein, deswegen komme ich in bestimmte Sendungen und kann dort für meine Ideen werben«, sagte sie dem Hochglanzmagazin »Paula«.

Und: »Ich habe mir mein Aussehen nicht ausgesucht, sehr wohl jedoch mein politisches Projekt.« Sie ist Kommunistin – wie ihre Eltern in den 70er Jahren. Im November 2010 wurde sie an der staatlichen Universidad de Chile über die Liste »Kollektiv linke Studierende« zur Vorsitzenden des Studentenverbands gewählt, als zweite Frau überhaupt. Damals wurde sie erstmals direkt mit ihrer Frauenrolle konfrontiert, erzählt Vallejo, an ihrer Schule im Süden Santiagos sei sie nicht diskriminiert worden.

Pinochets Erben sind alarmiert: »Sie hat ein halb teuflisches Gesicht, das Land kniet ihr zu Füßen«, geiferte ein Bezirksbürgermeister in Santiago. Eine Beamtin aus dem Kulturministerium twitterte: »Tötet die läufige Hündin, dann beruhigen sich die Rüden.« Camilas Eltern zogen vor Gericht, nun sicherten ihr die Behörden Polizeischutz zu.

Als Camila Vallejo zur ersten Kundgebung am 28. April aufrief, kamen 8000 – zuletzt, beim »Familiensonntag für die Bildung« im O'Higgins-Park von Santiago, war es eine Million. Ihre Position bleibt klar: »Wir wollen dieses neoliberale Bildungssystem nicht verbessern, wir wollen es durch ein anderes ersetzen«.

** Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


Ein Toter bei Protesten in Chile

Hunderttausende waren im Generalstreik ***

Eskalation in Chile: Bei Zusammenstößen während der Proteste gegen die Sozial- und Bildungspolitik der Regierung gab es einen Toten.

Bei Zusammenstößen am zweiten Tag des Generalstreiks in Chile ist ein 14-Jähriger erschossen worden. Ein weiterer Jugendlicher schwebe mit Schussverletzungen in Lebensgefahr, berichtete die Tageszeitung »El Mercurio« am Freitag in ihrer Online-Ausgabe. Die Umstände der beiden Schüsse waren zunächst unklar. In der Nacht zum Freitag war es erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gekommen.

Tagsüber verliefen die zahlreichen Kundgebungen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung jedoch friedlich. Nach Schätzungen der Gewerkschaft nahmen an dem zweitägigen Ausstand in zahlreichen Städten etwa 600 000 Menschen teil. Die Regierung gab die Zahl der Demonstranten mit 175 000 an. Am Donnerstag wurden nach offiziellen Angaben 27 Menschen verletzt und 210 festgenommen. Am Vortag hatte die Regierung mehr als 40 Verletzte und 348 Festnahmen gezählt.

Laut Gewerkschaft beteiligten sich an dem Streik 80 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Auch Zehntausende Studenten und Schüler gingen erneut auf die Straße. Sie demonstrieren seit Juni wöchentlich für höhere öffentliche Ausgaben für das Bildungssystem. Sie warfen der Polizei am Donnerstag Brutalität vor. Bei der Privatwirtschaft stieß der Aufruf der Arbeitnehmer nur auf geringe Resonanz. Die Gewerkschaften fordern eine höhere Besteuerung von Unternehmen, eine Rentenreform und mehr staatliche Mittel für das Bildungs- und Gesundheitswesen. Außerdem machten sich viele Demonstranten für eine neue Verfassung stark.

Die Zusammenstöße erreichten am Donnerstag (25. Aug.) nicht das Ausmaß vom ersten Streiktag am Mittwoch, als 36 Menschen verletzt und 348 festgenommen worden waren.

*** Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


Piñera will verhandeln

Chiles Regierung weicht vor Protesten zurück. Aufklärung der Tötung eines Jugendlichen beim Generalstreik gefordert ****

In Chile haben die Studenten am Wochenende darüber beraten, wie sie auf ein Dialogangebot von Staatschef Sebastián Piñera reagieren und ihre seit Monaten anhaltenden Proteste gegen die Bildungspolitik der Regierung fortsetzen wollen. Piñera hatte die Studenten, deren Eltern, Professoren und Hochschuldirektoren zuvor aufgerufen, sich mit den politisch Verantwortlichen »in einem Klima des Friedens und nicht des Krieges« an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam Lösungen zu finden, die einen gerechten Zugang zur Bildung für alle Chilenen sicherstellen könnten. Damit leitete der Staatschef offenbar einen Kurswechsel seiner Regierung ein, nachdem Bildungsminister Felipe Bulnes in der vergangenen Woche Gespräche mit den Protestierenden ausgeschlossen hatte und lediglich das Parlament als Ort für Diskussionen akzeptieren wollte.

Die Vorsitzende des chilenischen Studentenverbandes FECH, Camila Vallejo, reagierte auf den Vorstoß des Staatschefs vorsichtig positiv. Man werde die Einladung des Präsidenten analysieren und dann eine gemeinsame Antwort verabschieden, kündigte sie an. Ihr Kollege vom Schülerverband CNES, Rodrigo Rivera, erklärte ebenfalls, man werde die Vorschläge der Exekutive bei einer Zusammenkunft am kommenden Mittwoch besprechen.

Die chilenischen Schüler und Studenten fühlen sich durch den Erfolg des zweitägigen Generalstreiks in der vergangenen Woche bestärkt. Ganz Chile sei auf der Straße, lediglich die Regierung fehle unter den Demonstranten, kommentierte Studentenvertreter Camilo Ballesteros die großen Aktionen vom Mittwoch und Donnerstag, als sich rund 600000 Menschen den den Kundgebungen beteiligt hatten. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Protestierenden hatte dabei neben zahlreichen Verletzten auch ein Todesopfer gefordert.

Am Sonnabend (27. Aug.) wiesen die Carabineros die Verantwortung für den Tod des erschossenen Jugendlichen zurück. Seine Beamten seien zwar bewaffnet, würden jedoch nicht schießen, erklärte General Sergio Gajardo, der Vizechef der paramilitärischen Polizeitruppe in der Hauptstadt Santiago. Das chilenische Menschenrechtsinstitut wies dies zurück. Seine Direktorin Lorena Fries kündigte ein Klage gegen die Carabineros an, damit der Todesfall angemessen untersucht werden könne. (PL/jW)

**** Aus: junge Welt, 29. August 2011


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