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Jagdszenen auf der Alameda

In Chile eskaliert der Konflikt um das Bildungssystem auf den Straßen

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Chiles Staat greift zur Repression und Demonstrationsverboten gegen die streikenden Schüler und Studenten. Im ganzen Land seien 874 Demonstranten festgenommen und 90 Polizisten verletzt worden, erklärte die Regierung am Freitag (5. Aug.).

Am Donnerstag wird demonstriert – so halten es Chiles Schüler und Studenten nun schon seit Mitte Juni. Zusammen mit vielen Lehrern und Unidozenten protestieren sie gegen das unsoziale, profitorientierte Bildungssystem, das auf die Pinochet-Diktatur (1973-1990) zurückgeht und auch 21 Jahre Mitte-Links-Regierung bis hin zu Michelle Bachelet überlebt hat. Doch vom derzeitigen Präsidenten Sebastián Piñera lässt man sich nicht mehr hinhalten. Die Bewegung wird von Woche zu Woche breiter.

Nur noch 26 Prozent der Chilenen stehen einer neuen Umfrage zufolge hinter Piñera – das ist der niedrigste Wert für einen Staatschef seit der Rückkehr zur Demokratie 1990. Und der rechte Milliardär agiert immer autoritärer: Am Mittwoch ließ er sämtliche Demonstrationen verbieten, nachdem Schüler- und Studentenverbände einhellig seinen zweiten Reformvorschlag als Kosmetik zurückgewiesen hatten. Er vermisse konkrete Vorschläge, hatte Camilo Ballesteros vom Studentenverband der Universität von Santiago den 21-Punkte-Vorschlag kritisiert. Die Regierung halte an der untergeordneten Rolle des Staates fest, die zur derzeitigen sozialen Kluft im Bildungswesen geführt habe, erklärten die Studenten der Katholischen Universität von Santiago.

Es kam, wie es kommen musste: An der Plaza Italia, dem traditionellen Ausgangspunkt der jüngsten Protestmärsche in Santiago, ging die Polizei bereits am Donnerstagvormittag mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Tausende »Pinguine« vor, wie die Schüler wegen ihrer Uniformen genannt werden. Den ganzen Tag über hielten die Uniformierten die Prachtallee Alameda besetzt und jagten Demonstranten. Abends besetzten rund 200 Studenten den Fernsehsender Chilevisión. Der frühere Universitätskanal, der von 2005 bis 2010 Piñera gehörte, ist heute Teil des Time-Warner-Imperiums. Nach 40 Minuten und der Zusage, am Freitag werde die frisch aufgenommene Protestbotschaft in den Nachrichten ausgestrahlt, zogen die Besetzer von dannen.

Ab 21 Uhr knüpften die Unzufriedenen in vielen Städten an eine Protestform der Pinochet-Ära an: die cacerolazos, das Töpfe- und Pfannenschlagen, das nicht nur auf der Straße, sondern auch aus offenen Fenstern heraus bestens funktioniert.

Gestritten wird über Zugang, Qualität und Finanzierung des Bildungswesens. Es dominieren private Träger, die auch noch staatliche Subventionen einstreichen. Für die Schulbildung ist nicht mehr der Zentralstaat verantwortlich, sondern die chronisch unterfinanzierten Kommunen. 80 Prozent der Studienkosten müssen im Schnitt von den Studierenden selbst finanziert werden. Viele Hochschulabgänger starten mit einem hohen Schuldenberg ins Berufsleben – 40 000 US-Dollar, schätzt der linke Ökonom Marcel Claude. »Auch 40 Prozent der Studienabbrecher haben beträchtliche Schulden, und von denen, die fertig werden, arbeiten 60 Prozent fachfremd – und das bei der teuersten Ausbildung der Welt«, sagt Claude.

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


Bildung à la Pinochet

Von Martin Ling **

Chile trägt schwer unter dem Erbe Augusto Pinochets. Am letzten Tag der Diktatur – dem 10. März 1990 – wurde mit dem Bildungsgesetz Loce der Privatisierung des Bildungswesens Tür und Tor geöffnet. Seitdem hat keine der zivilen Regierungen – auch nicht die sozialistisch geführten – diesem Treiben Einhalt geboten. Die logische Folge: Das Bildungssystem spiegelt mehr und mehr die soziale Ungleichheit wider. Reiche Sprösslinge von den teuren Privatschulen reüssieren bei den Aufnahmetests zu den Universitäten fast immer. Abgängern von öffentlichen Schulen bleibt nur, ihre nicht vorhandenen Chancen zu nutzen.

Proteste gegen das unsoziale und unfaire chilenische Bildungssystem gibt es derzeit nicht zum ersten Mal. 2006 riefen die Schüler und Schülerinnen in Anlehnung an ihre Uniformen die Revolution der Pinguine aus. Mehr als einen Achtungserfolg erzielten sie nicht.

Seit dem Erdbeben 2010 hat sich die Lage verschärft: Armen Gemeinden, denen die Schulverwaltung obliegt, fehlt es an Geld für den Wiederaufbau und der Zentralstaat unter dem rechten Präsidenten Sebastian Piñera entzieht sich der Verantwortung. Dass der Staat jetzt mit Repression statt einer Bildungsreform auf die Proteste reagiert, ist bezeichnend. Pinochet hat tiefe Spuren hinterlassen.

** Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011 (Kommentar)


Pinochet läßt grüßen

Von Johannes Schulten ***

Mit brutaler Gewalt ist die chilenische Militärpolizei am Donnerstag (Ortszeit) gegen Protestkundgebungen von Schülern und Studenten vorgegangen. Mehr als 550 Jugendliche, darunter zahlreiche Minderjährige, wurden bei Demonstrationen in mehreren Städten Chiles festgenommen. Etwa hundert Teilnehmer mußten mit teils schweren Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert werden, nachdem Polizisten mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vorgegangen waren. Wie das Innenministerium mitteilte wurden auch mindestens 29 Beamte verletzt.

Innenminister Rodrigo Hinzpeter von der rechtskonservativen Regierungspartei »Nationale Erneuerung« hatte die Kundgebungen zuvor verboten. Dabei berief er sich auf ein noch immer gültiges Gesetz aus der Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990). Die Sprecherin des Verbandes von Sekundarstufenschülern, Paloma Muñoz, warf der Regierung daher vor, auf Protest mit Methoden der Generäle zu reagieren.

Das Zentrum der Aktionen bildete die Hauptstadt Santiago de Chile. Dort hatten sich bereits in den Morgenstunden 5000 Schüler auf der zentralen Plaza Italia versammelt, um gegen die Bildungspolitik der Regierung auf die Straße zu gehen. Kaum eingetroffen, wurden sie von mehreren Hundertschaften der Militärpolizei, den sogenannten Carabineros, auseinandergetrieben und durch die Stadt gejagt. Demonstranten errichteten Straßensperren. Rund 200 Schüler und Studenten besetzten am Nachmittag das Gebäude des TV-Senders Chilevision. Sie nahmen eine Videobotschaft auf, die am Freitag (5. Aug.) ausgestrahlt werden sollte (nach jW-Redaktionsschluß).

Scharfe Kritik am Vorgehen der chilenischen Polizei übte das Kinderhilfswerk UNICEF. In einer Stellungnahme zeigte sich die UN-Organisation besorgt über »den übermäßigen Einsatz von Gewalt gegen Jungendliche und Kinder«. Chile verstoße damit gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die das Land 1990 unterschrieben habe. Für die chilenische Regierung war es jedoch offenbar kein Problem, Hunderte Jugendliche festzunehmen. Innenminister Andrés Chadwick lobte am Donnerstag das Verhalten der »Carabineros« als »verantwortungsbewußt und besonnen«. Sie hätten die »Rechte aller Bewohner des Landes gegen eine Gruppe von jungen Leuten verteidigt, »die genau wußten, daß ihre Demonstration nicht genehmigt war«.

Viele Chilenen sahen das offenbar anders. Tausende Familien in der Hauptstadt verließen in der Nacht zum Freitag ihre Häuser. Sie zogen mit Kochtöpfen und Pfannen, auf die sie schlugen, durch die Straßen. Eine in dem Land sehr symbolträchtige Protestform. Bereits in den 80er Jahren hatten die Chilenen so ihrem Ärger über die Diktatur Luft gemacht.

Seit inzwischen drei Monaten kämpft Chiles Jugend mit Schulbesetzungen, Hungerstreiks und Massendemonstrationen für eine grundlegende Reform des Bildungssystems. Vor allem die Bevorzugung privater Träger gegenüber den völlig unterfinanzierten öffentlichen Einrichtungen steht in der Kritik. Erst am Montag hatte Bildungsminister Felipe Bulnes mit einem 21-Punkte-Programm versucht, die Gemüter zu beruhigen. Darin ist unter anderem eine Aufnahme des »Rechts auf qualitativ hochwertige Bildung« in die Verfassung vorgesehen. Studierenden- und Schülerverbände lehnten die Vorschläge als »völlig unzureichend ab«, da sie keine Maßnahmen beinhalten, um die Ziele durchzusetzen.

*** Aus: junge Welt, 6. August 2011


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