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Präsidentin für ein soziales Chile

Bachelet will in ihrer zweiten Amtsperiode eine neue Verfassung und eine Bildungsreform

Von Jens Holst, Santiago *

Michelle Bachelet hat es geschafft, sie wird zum zweiten Mal Präsidentin Chiles. In der Stichwahl ließ sie Evelyn Matthei von der rechten Regierungskoalition Allianz für Chile deutlich hinter sich.

»Das ist ein historischer Moment«, rief Bachelet am Wahlabend vor Tausenden jubelnden Anhängern im Zentrum der Hauptstadt Santiago, »der Moment für grundlegende Veränderungen ist gekommen«.

Bachelet kam auf rund 62 Prozent der Stimmen, Matthei auf 37,8 – das schlechteste Ergebnis für die Rechte seit dem Ende der Militärherrschaft von Pinochet 1990. Die Wahlbeteiligung erreichte mit geschätzten 47 Prozent einen historischen Tiefstand.

40 Jahre nach dem Putsch von General Augusto Pinochet spielten die Militärdiktatur und der Umgang mit der jüngeren Geschichte bei dieser Wahl noch einmal eine Rolle. Beide Kandidatinnen sind Töchter von Luftwaffengeneralen, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnte: Während Bachelets Vater zu den ersten Opfern des Putsches gehörte, war Matthei senior drei Jahre lang Mitglied der Militärjunta.

Auch Deutschland spielte im chilenischen Wahlkampf eine Rolle. Die deutschstämmige Kandidatin der rechten Allianz für Chile verglich sich gerne mit Angela Merkel. Ihren Vorschlag, die Ausbildung chilenischer Arbeitnehmer nach deutschem Vorbild zu verbessern, begründete sie mit rhetorischen Griffen in die Mottenkiste des Kalten Krieges: »Unser Projekt zielt auf das Deutschland Merkels, deren Projekt auf das Deutschland der Berliner Mauer.« Die Anspielung ist klar – Bachelet war von 1975 bis 1979 im Exil in der DDR.

Aber nicht nur der Kalte Krieg ist lange vorbei, sondern auch die Militärdiktatur in Chile liegt fast ein Vierteljahrhundert zurück. Für die heute 20- bis 30-Jährigen ist sie Geschichte, Auseinandersetzungen der Politiker darum sind für sie schwer nachvollziehbar. Vor allem fühlen sie sich immer weniger von der immer gleichen Politikerkaste vertreten. Mangelndes Vertrauen in Politiker, Politik und Parteien ist die wichtigste Ursache für ihre Wahlenthaltung, und viele junge Chilenen finden, dass ihre Interessen keine ausreichende Berücksichtigung finden. Entsprechend hoch ist der Anteil der Nichtwähler.

Drei zentrale Themen hat Bachelet: Eine neue Verfassung, eine grundlegende Bildungsreform und Nachbesserungen der Sozialsysteme. Dafür kann sich die wiedergewählte Staatspräsidentin in den kommenden vier Jahren auf Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments stützen. Hinter ihr steht mit der Neuen Mehrheit für Chile das erst 2009 gegründete Parteienbündnis aus Sozialisten, Sozialdemokraten, Christdemokraten und Kommunisten. Es stellt 71 von 120 Abgeordneten und 21 von 38 Senatoren. Das reicht allerdings nicht für Maßnahmen wie ein neues Grundgesetz.

Eine »aus der Demokratie geborene Verfassung, die Rechtsstaatlichkeit garantiert und zu einem neuen Sozialpakt wird«, versprach die Wiedergewählte noch am Wahlabend. Für ein neues Grundgesetz ist eine Dreiviertelmehrheit erforderlich. Da die rechte Opposition eine Änderung der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur ablehnt, führt der Weg nur über eine juristisch umstrittene verfassunggebende Versammlung, zu der sich Bachelet eindeutig bekannte.

Ihr Ziel, die Schul- und später auch die Universitätsausbildung für alle kostenfrei zu machen, hat große Erwartungen geweckt. Eine Weichenstellung im Bildungs- wie auch im Sozialwesen in Richtung sozialer Gerechtigkeit muss die gesellschaftlichen Bedingungen ändern. Eine grundlegende Bildungsreform ist nicht denkbar, ohne Privilegien der Bessergestellten zu beschneiden. »Wir werden die erforderlichen grundlegenden Veränderungen verantwortungsvoll weiterführen«, versprach sie den Wählern, dämpfte aber zugleich die Erwartungen: »Wir werden diese Aufgabe in dem Bewusstsein angehen, dass sie über eine Präsidentschaftsperiode hinausgeht.«

Auch könnte die Präsidentin auf Widerstand in den eigenen Reihen stoßen, wie schon in ihrer ersten Amtsperiode. Sieben linke Abgeordnete, unter ihnen die bekannte Studentenaktivistin Camila Vallejo, die eine von der Kommunistischen Partei angeführte Fraktionsgruppe bilden, kamen über die Liste der Neuen Mehrheit ins Parlament. Trotz Unterstützung für die neue Präsidentin werden sie nicht alles mitmachen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Dezember 2013


Wahlsieg für neue Verfassung

Michelle Bachelet wird wieder Präsidentin Chiles

Von André Scheer **


Michelle Bachelet kehrt in den chilenischen Präsidentenpalast La Moneda zurück. Die Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses »Neue Mehrheit« konnte sich am Sonntag in der Stichwahl klar gegen die Vertreterin der Rechten, Evelyn Matthei, durchsetzen. Mit mehr als 62 Prozent der Stimmen erreichte sie das höchste Ergebnis, das je ein Kandidat bei einer Präsidentschaftswahl seit dem Ende der Pinochet-Diktatur mobilisieren konnte. Vor Tausenden jubelnden Anhängern erklärte Bachelet am Sonntag abend (Ortszeit), dieses Ergebnis sei nicht ihr persönlicher Erfolg, sondern der Sieg all derjenigen, die in den vergangenen Jahren für ihre Forderungen auf die Straße gegangen waren: »Gewinne dürfen nicht der Motor der Bildung sein, denn Bildung ist keine Ware! Die Träume der Menschen sind kein Handelsgut, sondern ein Recht aller! Es haben die gesiegt, die im Namen der Vielfalt, im Namen der Toleranz für eine öffentliche Gesundheitsversorgung und für die Verteidigung der Rechte der indigenen Völker auf die Straße gegangen sind.« Als zentrale Forderung hob sie die Ausarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung hervor, »die mehr Rechte sichert und die garantiert, daß in Zukunft die Mehrheit nie wieder von einer Minderheit zum Schweigen gebracht wird«. Das bisher geltende Grundgesetz stammt im Kern noch aus der Zeit der Diktatur.

Es waren solche Forderungen, die weit über die Regierungspraxis von Bachelets erster Amtszeit von 2005 bis 2009 hinausgehen, die dazu geführt haben, daß ihre Kandidatur diesmal von einem breiten Bündnis getragen wurde, das von den Christdemokraten bis zur KP Chiles reichte. Deren neue Parlamentsabgeordnete Karol Cariola, die Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend ist, hob den Sieg Bachelets als »ersten Schritt zum Aufbau einer wirklichen Demokratie in unserem Land« hervor. Es könne aber nicht die Rede davon sein, daß in Chile nun schon der Sozialismus aufgebaut werde, wie rechte Medien nach dem Erfolg Bachelets spekulierten.

Die Wahlen waren in diesem Jahr stark von der Erinnerung an die Diktatur geprägt worden. Am 11. September hatte sich der Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende zum 40. Mal gejährt. Und auch die Kandidatinnen repräsentierten die beiden Pole der chilenischen Geschichte: Die Väter von beiden waren Generäle der chilenischen Streitkräfte. Michelle Bachelets Vater, Alberto Bachelet, blieb 1973 jedoch loyal zu Allende und verweigerte den Putschisten den Gehorsam. Er wurde verhaftet, gefoltert und starb 1974 an den Folgen der Mißhandlungen. Michelle Bachelet flüchtete mit ihrer Mutter in die DDR, wo sie ihr Studium beenden konnte. Demgegenüber gehörte Fernando Matthei, der Vater der heutigen Rechtskandidatin, zur Putschistenjunta. Evelyn Matthei blieben Verfolgung und Exil erspart.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Dezember 2013


Chile braucht einen echten Wandel

Martin Ling über den Wahlsieg von Michelle Bachelet in Chile ***

Chiles neue Präsidentin Michelle Bachelet setzte die richtigen Themen: Bildungsreform, Steuerreform und neue Verfassung. Diese Punkte brennen einem Großteil der Chilenen aus der Mitte der Gesellschaft auf den Nägeln. Kein Wunder: Gute Bildung ist in Chile nur teuer und privat zu haben, in Sachen Ungleichverteilung der Einkommen wird das Land in Südamerika nur noch von Brasilien übertroffen, und die Verfassung stammt aus dem Jahr 1980 und damit mitten aus der Pinochet-Diktatur (1973-1990).

Nach ihrem Wahlsieg muss Bachelet nun zeigen, dass sie auch liefern kann. Denn ihre erste Amtszeit von 2006 bis 2010 brachte ihr zwar hohe Popularitätswerte, doch an ihrem Reformeifer kann das nicht gelegen haben. Sie beließ im Großen und Ganzen alles beim Alten und auch die massiven Schülerproteste brachten damals keine echte Bewegung im Bildungssektor.

Klar ist: Eine neue Verfassung geben die Mehrheiten in Senat und Parlament nicht her, da die Rechten sie blockieren können und werden. Klar ist aber auch: Ohne neue Verfassung kann Chile das Erbe der Diktatur nicht überwinden. Die Einberufung und Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung könnte so für Bachelet zum Königsweg werden. Ob sie ihn begeht und damit lateinamerikanischen Beispielen wie Venezuela, Ecuador und Bolivien folgt, ist noch nicht absehbar. Für Chile wäre dieser Schritt überfällig.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Dezember 2013 (Kommentar)


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