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Selbstmord mit zwei Kopfschüssen?

Chilenische Justiz will den Tod von Salvador Allende aufklären

Von Ingo Niebel *

Wie starb Chiles Präsident Salvador Allende, als am 11. September 1973 Putschisten begannen, in den brennenden Präsidentenpalast einzudringen? Fiel er mit der Waffe im Kampf gegen die Verräter in Uniform, oder wählte er den Freitod? Diese Fragen will die chilenische Justiz beantwortet wissen. Sie bearbeitet den Fall Allende als einen von 726 Morden, die sich während der Pinochet-Diktatur (1973–1990) ereigneten und die sie jetzt aufklären soll. Zwei Versionen gibt es zum Ableben des Präsidenten. Die Putschisten unter General Augusto Pinochet verbreiteten die Nachricht, wonach sich Allende das Leben genommen hätte. Nach katholischem Verständnis stellt der Suizid eine Todsünde dar und gilt in dieser Glaubenswelt auch als ein Zeichen von Feigheit. Das paßte zur Propaganda, die die Putschisten zusammen mit ihren US-amerikanischen Auftraggebern schon zu Allendes Lebzeiten verbreitet hatten. Und noch im Tod sollte der Politiker diskreditiert werden, damit er nicht, wie der 1967 in Gefangenschaft erschossene Che Guevara, einen christlichen Märtyrerstatus erlangte.

Die offizielle Selbstmord-These stützt sich unter anderem auf die Aussagen des Arztes Patricio Guijón, der zum Präsidentenstab gehörte. Er bleibt weiterhin bei seiner Aussage, daß er sah, wie sich Allende erschoß. Laut einem Zeitungsartikel, der 2003 erschien, soll sich das Staatsoberhaupt mit zwei Schüssen in den Kopf getötet haben. Allendes Familie hat den Freitod nie in Frage gestellt.

Die andere Version aus der Feder des ostdeutschen Schriftstellers und Majors im Ministerium für Staatssicherheit, Julius Mader, über den letzten Kampf des schwerverwundeten Präsidenten liest sich so: »Dennoch kämpfte Genosse Allende im Sitzen weiter mit einem ihm einst von Fidel Castro verehrten Schnellfeuergewehr.« Der Putschisten-Hauptmann Roberto Garrido stürmte das Zimmer und streckte zuerst Allendes Sekretärin nieder, dann »schoß (er) erbarmungslos auf seinen rechtmäßigen Präsidenten und Oberbefehlshaber«. Mit zwei Schüssen in die Brust soll der Offizier das Staatsoberhaupt getötet haben. Hinter dem Mörder, so Mader weiter, soll der westdeutsche Journalist Gerhard Eisenkolb gestanden haben. Er berichtete für das Magazin Bunte über die Ereignisse in Chile. Das süd­amerikanische Land war der Bonner Politik und Wirtschaft ein Dorn im Auge, seitdem Allende die DDR offiziell anerkannt hatte.

Washington sah in dem Linkspolitiker eine Gefahr, weil er als erster über Wahlen und nicht per Revolution an die Macht gekommen war. Unmittelbar nach dessen Sieg 1970 entschieden US-Präsident Richard Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger, daß Allende beseitigt werden müsse. Das Geld für den Putsch kam vom US-Telefonkonzern ITT, das Know-how vom Auslandsgeheimdienst CIA und von den Special Forces der USA. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) unterstützte die US-Politik gegen Chile mit einem Handelsembargo und dem Einfrieren der Entwicklungshilfe. Bundestagsabgeordnete aus CDU, CSU und SPD sorgten, so Mader, mit Geldlieferungen dfür, daß auch die subversive Arbeit der Oppositionsparteien wie geschmiert lief. Allende wurde am 12. September 1973 beerdigt. Die Beisetzung war geheimgehalten worden. Eine zweite Obduktion soll es vorläufig nicht geben.

* Aus: junge Welt, 2. Februar 2011


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