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Ein gewaltiges Laboratorium

Erstmals etablierte sich in einem lateinamerikanischen Land die Volksmacht

Von Johnny Norden *

Er war der erste bekennender Marxist, der in einem kapitalistischen Land aus bürgerlich-demokratischen Wahlen als Sieger hervorging und die Regierungsgeschäfte übernehmen konnte. Sein Wahlprogramm, das Programm der in der Unidad Popular zusammengeschlossenen Parteien, zielte – ausgehend von der chilenischen Verfassung – auf eine sozialistische Revolution. Der Wahlerfolg der Unidad Poplular am 4. Septmber 1970 erfuhr Aufmerksamkeit in der ganzen Welt – und er verdient diese noch heute.

Die Grundidee des Programm war einfach und überzeugend: Dem Großkapital sollte die ökonomische Verfügungsgewalt über die wichtigsten Produktionsmittel entzogen und damit seine politische Hegemonie gebrochen werden. Auf dieser Basis sollten Sozialreformen möglich sein, die den Unterprivilegierten zu Gute kommen würden. Allende hatte wiederholt klargestellt, dass es seiner Regierung um das Erreichen derselben strategischen Ziele wie in der russischen und der kubanischen Revolution ging. Aber sie sollten unter Nutzung der bürgerlich-demokratischen Traditionen seines Landes, ohne Bürgerkrieg und Blutvergießen erreicht werden. Durch konsequente Erfüllung der Wahlversprechen sei die Mobilisierung der einkommensschwachen Schichten zu erreichen. Somit erhielte die Regierung auch die nötige Massenbasis im Kampf gegen jeden Widerstand. Damit war ein politisches Laboratorium eröffnet, wie es seinesgleichen bislang nicht gab.

Die Lehren des chilenischen Aufbruchs sind von hohem Interesse für die LINKE. Manche Erklärungen aus der Linkspartei in diesen Tagen erinnern an die Dokumente der Unidad Popular. Gesine Lötzsch betonte auf einer Tagung im Juni: »Wir müssen beweisen, dass sozialistische Transformationsprozesse mit klaren Regeln verbunden sind, die sogar durch das Grundgesetz gedeckt sind.« Um solche Thesen wird in der Partei aufgeregt gestritten, oft sehr abstrakt. Wichtiger als alle theoretischen Diskussionen und Programme sind jedoch stets praktische Erfahrungen. Und diese wurden in Chile zwischen 1970 und 1973 reichlich gesammelt.

Allende war die zentrale Figur des kühnen Aufbruchs. In seiner Leidenschaft und Energie, in seinem Einsatz für die Unterdrückten und Armen seines Landes unterschied er sich eklatant von heutigen Politikern, die vielfach nur noch private Lebensziele verfolgen. Unter seiner Führung gelang es der Volksregierung 1971 innerhalb weniger Monate, durch Enteignungen und Aktienaufkäufe wichtige Zweige der Wirtschaft zu verstaatlichen. Damit war für die Sozialprogramme eine solide Grundlage gegeben.

Die Gewinner der neuen Zeit waren die vormals Unterpriveligierten. Die Erfolge der chilenischen Revolution und ihr Überleben in krisenhaften Zeiten waren nur möglich dank der Begeisterung, der Zähigkeit und der Opferbereitschaft der Volksmassen. Ein Indiz dafür waren die Wahlen im März 1973. Trotz wirtschaftlichem Chaos, trotz Hetzkampagnen der rechten Medien und reaktionärem Terror stimmten acht Prozent mehr Menschen für die UP-Regierung als bei der Präsidentenwahl 1970. Als besonders stark erwies sich die Linke in den Industriezentren, in den landwirtschaftlichen Südprovinzen und in der Hauptstadt.

Woher kam dieser Kräftezuwachs? Erstmals in der Geschichte Chiles versuchten die einfachen Menschen, die Gestaltung der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Chance wollten sie sich nicht nehmen lassen. Angesichts der Angriffe der Reaktion, die sogleich nach dem Wahlsieg einsetzten, nahmen die Arbeiter und Angestellten in den Fabriken, Kraftwerken und Krankenhäusern die Aufrechterhaltung von Produktion und Service, die Bewachung ihrer Arbeitsstellen und die Verteilung der wichtigsten Konsumgüter in eigene Regie und schufen völlig neue Organisationsformen. So entstanden die Zusammenschlüsse der Verwaltungskomitees »comandos comunales«, der »juntas de abastecimiento y precio« (Versorgungs- und Preiskontrollkomitees) oder die Selbstschutzorgane »brigadas ramona parra«. Wenn auch nur in Keimform, so verkörperten doch diese Organe einen neuen Typ der Macht, der Volksmacht. Während der chilenischen Revolution entstand eine neue Form des gesellschaftlichen Lebens.

Jene Eigendynamik in der Massenbasis der chilenischen Revolution nicht erkannt und für den Kampf nicht genutzt zu haben, war ein folgenreiches Versäumnis der Führungen der beiden linken Massenparteien Chiles, der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei. Am chilenischen Beispiel zeigte sich, dass bestehende und seit langem institutionalisierte Parteien, die über viele Jahre die Sammlung und Analyse von Kampferfahrungen vernachlässigt haben und von der bürgerlichen Gesellschaft bereits »akzeptiert« worden sind, nur noch ein Hemmnis für die Revolution darstellen.

Die große Tragik der chilenischen Revolutionäre besteht darin, dass sie an denselben Fehlern scheiterten, die 100 Jahre zuvor den Pariser Kommunarden unterliefen. Sie glaubten den bürgerlichen Staatsapparat nur in die Hand nehmen zu müssen, um ihn für ihre Zwecke in Bewegung zu setzen. Sie waren nicht entschlossen genug, die »bürokratisch-militärische Maschinerie zu zerbrechen«. Und wie die Pariser Kommunarden wurden auch sie Opfer ihres Vertrauens in die bürgerlich- demokratischen Traditionen und ihres Großmuts gegenüber dem politischen Gegner.

Schuld an der Niederlage der chilenischen Revolutionäre war nicht das ungünstige internationale Kräfteverhältnis. Auch nicht das Erstarken anarchistischer und linksradikaler Bewegungen; diese waren eher Ergebnis des Fehlens einer wirksamen politischen Führung. Präsident Allende hatte in den Parteien der Unidad Popular keine Hausmacht. Diese waren in entscheidenden Momenten der Revolution zu offensiven Aktionen nicht in der Lage. Sie verzichteten darauf, den von der US-Regierung finanzierten Fuhrunternehmerstreik durch gemeinsame Aktionen ihrer Mitglieder und regierungstreuer Militärs ein Ende zusetzen.

Wie so oft hatte auch in Chile der Kapitalismus angesichts der Schwäche des Gegners seine »Anpassungsfähigkeit« bewiesen und einen Ausweg aus der Gefahr seines Untergangs gefunden. Seine Antwort war der konterrevolutionäre Staatsstreich vom 11. September 1973 und eine radikale Neoliberalisierung der chilenischen Gesellschaft. Heute, 40 Jahre später, gibt es kaum ein Land in Lateinamerika, in dem der Kapialismus auf festeren Füßen steht als in Chile.

Allendes Chile beweist aber auch, dass ein Bündnis linker Parteien mit einem revolutionären Programm auf der Grundlage klassischer bürgerlich-demokratischer Verfassungen an die Regierung gelangen kann. Die chilenische Erfahrung zeigt zugleich, dass ein friedlicher Übergang zum Sozialismus von den Ausbeuterklassen aufs Schärfste bekämpft wird.

* Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010

Vita: Salvador Allende

  • 1908: Salvador Allende Gossens wird in Valparaíso als Sohn des Rechtsanwalts Salvador Allende und von Laura Gossens Uribe geboren.
  • 1926: Beginn des Studiums der Medizin an der Universität Santiago.
  • 1930: Allende wird Vizepräsident der Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile, der Studentenföderation Chiles.
  • 1932: Eintritt ins Berufsleben als Pathologe im Hospital van Buren in Valparaíso.
  • 1936: Gründung der Frente Popular (Volksfront), deren Präsident Allende in Valparaíso wird.
  • 1938: Allende wird stellvertretender Generalsekretär der Sozialistischen Partei Chiles.
  • 1939: In der Regierung Pedro Aguirre Cerda übernimmt Al-lende das Amt des Gesundheitsministers.
  • 1952: Erster Wahlkampf um das Amt des Präsidenten.
  • 1970: Mit 36,6 Prozent gewinnt Allende seinen dritten Präsidentschaftswahlkampf.
  • 1971: Ein Attentatsversuch auf Allende scheitert.
  • 1972: Allende klagt vor der UN-Vollversammlung in New York die von den USA initiierte »unsichtbare Blockade« gegen Chile an; danach besucht er die Sowjetunion, Kuba, Mexiko, Algerien, Venezuela.
  • 1973: Bis zum Tode verteidigt Allende den Präsidentenpalast La Moneda gegen die Putschisten des 11. September.
Quelle: Waltraud Hagen/Peter Jacobs, »Salvador Allende. Eine Chronik« (Edition Ost, 12,90 €)




Es war eine große Unschuld

Isidoro Bustos über den Jubel der Massen und seine Sorgen damals **

Neues Deutschland (ND): Wie haben Sie am 4. September 1970 Allendes Wahlsieg gefeiert?

Bustos: Die Genossen im Viertel von Santiago, in dem ich damals wohnte, suchten mich auf und haben mich aufgefordert mitzukommen, um den Sieg gemeinsam in der Stadt zu feiern. Ich sagte: »Ich komme nach. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Das stimmte nicht. Ich wollte an diesem Tag allein sein mit meiner Frau. Denn ich hatte ein zwiespältiges Gefühl. Da war die große Freude, dass wir gewonnen haben, zugleich aber auch große Sorge: Was kommt jetzt? Wann werden die Rechten zu ihrem ersten Schlag gegen uns ausholen? Etwas später kamen Genossen mit derselben Sorge zu mir. Es gab eine große Unschuld unter den Menschen. Der Jubel war unendlich. Berechtigt. Aber er hat uns unvorsichtig sein lassen.

Mit 33 Jahren sind Sie bereits Ministerialdirektor in Allendes Justizministerium geworden.

Ja, ich war Planungschef unter allen drei Justizminister, auch unter Sergio Insunza, einem sympathischen Kommunisten. Ich war Mitglied der Sozialistischen Partei. War! Denn eine neoliberale sozialdemokratische Partei ist nicht mehr meine Partei.

Aber eigentlich wollte ich damals kein offizielles Amt besetzen.

Warum nicht?

Weil ich wusste, dass die entscheidende Arbeit nicht in den Büros geleistet wird, sondern in der Bevölkerung. Aber da es dann einen Mangel an qualifizierten Kräften gab, konnte ich mich nicht verweigern, Verantwortung in der Bürokratie zu übernehmen.

Wie kam es zum Mangel? Der Staatsapparat ist ja leider eben nicht von reaktionären Kräften befreit worden.

Allende hat niemanden entlassen. Aber viele alte Bürokraten wollten nicht unter der Regierung der Unidad Popular arbeiten. Ein arabisches Sprichwort sagt: Wenn deine Feinde fliehen, bau ihnen eine silberne Brücke.

Und doch saßen gerade auch im Justizwesen noch genug von jenen, die Allendes Politik sabotierten.

Ja, die Justiz war ein starker Arm der konservativen Schichten der Gesellschaft. Sie war ein Instrument, um von der Regierung verabschiedete soziale Gesetze umzuinterpretieren zu Gunsten der Unternehmer. Das war auch schon vor Allende so.

Wurden auch Sie mit solch reaktionären Kräften konfrontiert?

Mehrfach. Gleich zu Beginn meiner Arbeit im Justizministerium habe ich einen Vorschlag gemacht, wie wir den Übergang zum Sozialismus unterstützen könnten. Da kam eines Tages der Präsident des Obersten Gerichts ins Ministerium. Er wolle den Minister sprechen. Doch weder er noch sein Staatssekretär waren im Haus. Darum habe ich habe den Präsidenten empfangen. Er dachte, ich wäre eine Bürokraft. Er war richtig erschrocken, als ich mich hinter den Schreibtisch des Ministerialdirektors für Planung setzte. Ich war ihm zu jung, in seinen Augen fast noch ein Kind. Er musste aber mit mir vorliebnehmen.

Eine sozialistische Justiz aufzubauen, gelang nicht. War die Zeit zu kurz, die der Volksfrontregierung beschieden war?

Ja. Und wir waren viel zu stark mit tagespolitischen Geschehnissen beschäftigt, konnten unsere vielen Vorhaben, neue Gesetze auszuarbeiten, nicht umsetzen.

Was verstehen Sie unter sozialistischer Justiz und sozialistischer Gesetzlichkeit?

Sozialistische Justiz bedeutet, die Gesetze nicht nach Konjunktur zu interpretieren, sondern ein stabiles Rechtssystem zu wahren, in dem die Pflichten und Rechte eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Stand, respektiert werden. Und das bedeutet ein Rechtssystem, das die pluralistische Struktur der Gesellschaft respektiert. Also auch die politisch Andersdenkenden. Denn nicht alle Menschen werden Sozialisten und Marxisten sein. Selbst dann nicht, wenn der Sozialismus eines Tages Weltsystem geworden ist.

Daran glauben Sie?

Aber natürlich.

Der Sozialismusversuch in Chile wurde in einem Blutbad erstickt.

Ja. Ich hatte Glück im Unglück – zwei Mal. Eine dritte Verhaftung wollte ich nicht riskieren. Ich bin 1975 ins Exil gegangen, nach Westberlin, wo ich dann an der Freien Universität arbeiten konnte.

Wir waren an der Regierung, aber wir hatten nicht die Macht. Das ist ein Unterschied. Präsident Allende war nicht so frei, alles so zu machen, wie er es wollte. Und es wurden riesengroße Fehler gemacht. Die ganze Führung der Unidad Popular trägt Verantwortung für die Niederlage. Sie hat geglaubt, dass die demokratische Tradition in Chile stabil sei, die Demokratie unantastbar, unangreifbar. Es wurde nicht beachtet, dass die Demokratie von bestimmten Kräften nur so lange geachtet wird und unangetastet bleibt, wie sie das Privateigentum an Ressourcen und Produktionsmiteln sowie die Freiheit der Wirtschaft garantiert. Wir haben in deren Augen ein Sakrileg begangen.

Gespräch: Karlen Vesper

** Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010


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