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Sie holten zum Schlag aus

Vor 40 Jahren stürzten Militärs die Regierung der Unidad Popular in Chile

Von Jürgen Reents *

Es waren nicht alle empört, als das chilenische Militär die Regierung von Salvador Allende stürzte. Die »Bild«-Zeitung schrieb am 12. September 1973, dem Tag nach dem Putsch: »Drei Jahre Marxismus – und Chile war kaputt«. Sie erfüllte die Rolle des Militärlautsprechers: »Jetzt hat die Armee nicht mehr länger stillgehalten. Vor Nachahmung wird daher gewarnt.«

Auch der unmittelbar begonnene Terror, die Verschleppungen, Folterungen und Ermordungen von Anhängern der Unidad Popular schreckten nicht überall. Die »Bild«-Schwester für die Krawatten tragende Rechte, »Die Welt«, schrieb am 2. Oktober: Die Menschen fühlten eine »Befreiung von dem Alpdruck, den Allende und, mehr noch, seine Trabanten für sie bedeutet haben«. Die Zeitung wusste auch: Sechs zunächst mit inhaftierte Bundesbürger hätten ihre Pässe zurückerhalten. Und: »So behutsam die Junta mit diesen Deutschen verfuhr, so schonend ging sie auch mit Blut und Gut der Chilenen selbst um. Es war ein Putsch, bei dem in Santiago nicht einmal der Strom ausfiel.« Schmierige Freude und ekelhafter Zynismus breiteten sich in den konservativen Medien über Tausende von Toten aus, die die Opfer nicht nur von Pinochet waren, sondern auch von Nixon und Kissinger, der CIA und Konzernen wie ITT, Anaconda, Kennecott und Hoechst.

Blättern in einem 40 Jahre alten Archiv. Für die Septemberausgabe des »Arbeiterkampf«, einer linken Monatszeitung aus Hamburg, die rund eine Woche vor dem Putsch erschien, hatte ich einen längeren, ahnungsdüsteren Artikel geschrieben: »Friedlicher Übergang auf dem Sterbebett«. Es lagen Besorgnis erregende Nachrichten aus Chile vor. Trotz eines gescheiterten Putschversuchs im Frühsommer hatte die Rechte nicht nachgelassen, eine Umsturzstimmung zu schüren. Sie drängte die Unidad Popular zu Zugeständnissen, die diese schwächen sollten. Sie drängte sie zur Aufnahme von Militärs in die Regierung und zu deren Ermächtigung, all jene zu entwaffnen, die sich angesichts der zunehmenden Anschläge und Sabotageakte darauf vorbereiteten, den gewählten Weg in ein freieres Chile auch außerhalb der staatlichen Institutionen zu verteidigen.

Welche Chancen hatte die Allende-Regierung da noch, ihr Programm eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels zugunsten der ärmeren Bevölkerung mit friedlichen Mitteln fortzusetzen? Ihre Gegner zollten ihr keinen Respekt für diesen Versuch. Sie verlangten, dass die Unidad Popular die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie zu beachten hätte, während sie selbst diese für überflüssig hielten. In weit mehr als der Hälfte des südamerikanischen Kontinents herrschten damals bereits Militärdiktaturen, die die Privilegien der Reichen mit Waffengewalt schützten und dem internationalen Kapital freies Schussfeld für satte Profite verschafften. Nun wollte auch die chilenische Rechte sich den ersten Schlag reservieren, ohne auf einen Widerstand zu treffen, der sie erneut aufhalten konnte. Und sie holte am 11. September gnadenlos dazu aus.

War die Unidad Popular das tragische Opfer einer Illusion geworden? War ein gerechteres Leben nur noch mit Mitteln möglich, die denen des brachialen Gegners ähnlich und ebenbürtig waren, bewaffnet also – zumal in den Ländern der Dritten Welt, wo die Konzerne aus den Metropolen und die CIA die ihnen passenden Regimes mit Eisenfäusten ausstatteten? War die Welt vor 40 Jahren noch so weit entfernt davon, die Selbstbestimmung von Menschen zu achten? Auch die Regierung Willy Brandts hatte 1972 die Exportbürgschaften für Chile ausgesetzt und sich damit als Schräubchen bei der Destabilisierung der Allende-Regierung benutzen lassen.

Die Skepsis ist ein Klotz am radikalen Bein der internationalen Solidarität. In Hamburg kamen nach dem Putsch 2000 Genossinnen und Genossen zur dort größten Veranstaltung, im Berliner Osten protestierten 350 000 Menschen. Insbesondere aus der DDR hatte die Unidad Popular in den knapp drei Jahren ihrer Amtszeit viel Unterstützung erfahren. Mehrfach brachten Schiffe Hilfsgüter nach Chile, darunter Medikamente und medizinische Instrumente, Baumaterialien und Ausstattungen für Schulen und Kindergärten, Fahrzeuge, Elektrowaren, Sportgeräte und Lebensmittel. Die Bevölkerung beteiligte sich aktiv an Spendensammlungen, die FDJ schickte Arbeitsbrigaden, die beim Schulbau halfen. Diese Solidarität war nur möglich, weil in Rundfunk und Fernsehen, auf Versammlungen in Betrieben, im Schulunterricht und auf Veranstaltungen intensiv über die Unidad Popular, ihre Vorhaben und die Lage in Chile informiert wurde.

Die Solidarität, die wach wurde, als die Kämpfenden schon Opfer waren, konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Aber wie jene, die früh aufmerksam war, ist sie gebliebene Mahnung, dass sich ein 11. September nicht wiederholen darf.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. September 2013


Diesseits des 11. September

Die Jahrestage des Putsches in Chile sind Tage des Kampfes für eine gerechtere Gesellschaft

Von Manuel Guerrero Antequera **


Der 11. September 1973 erscheint vor unserem kollektiven geistigen Auge als Tag der Katastrophe – der Katastrophe des Wortes, der Rede, der Möglichkeit, Konzepte zu entwickeln, um eine Debatte zu eröffnen, Argumente abzuwägen, andere zu überzeugen. Die Ereignisse jenes Tages zielten darauf ab, das chilenische Volk im Allgemeinen und die Linke im Speziellen an ein Datum des unwiderruflichen, bitteren und düsteren Schmerzes zu fesseln.

Nun begehen wir einen weiteren 11. September. Den Tag, an dem Präsident Salvador Allende ermordet wurde, bevor er eine Volksabstimmung anberaumen konnte, damit das Volk als eigentlicher Souverän über sein Schicksal bestimmt. Jeden 11. September wird die Stimme des Präsidenten erneut erstickt, um für alle Zukunft an den Preis des Hasses jener zu erinnern, die sich aus privilegierter Position für die Besitzer der lebendigen Welt halten.

Chile hatte schon zwei Aufstände gegen die konservative Regierung von Manuel Montt in den Jahren 1851 und 1859 erlebt. Damals forderten die rebellierenden Kämpfer für die Gleichheit mit Unterstützung der Handwerker die Neuaufteilung des Bodens, Bildung für das Volk und Demokratisierung der Wahlen, damit alle Teile der Gesellschaft die Möglichkeit einer Vertretung bekämen. Die Antwort: Gefängnis, Exil, Tod.

1891 versuchte Präsident José Manuel Balmaceda, die Staatsausgaben zu erhöhen und sozialen Maßnahmen zuzuführen. Die Mehrheit der mit der Elite verbandelten Parteien im Kongress reagierten mit Hilfe der Marine militärisch. Mehr als 10 000 Menschen verloren ihr Leben, darunter der Präsident, der nach neun Monaten Widerstand den Freitod wählte. Gleiches widerfuhr den Arbeitern der Salpeterminen, die in Iquique im Dezember 1907 die Dreistigkeit besaßen, in einen Streik zu treten. Die Salpeterexporte machten damals mehr als 80 Prozent der Exportbilanz aus und das Geschäft wurde stark von britischen und spanischen Eignern kontrolliert. Das Militär schlug den Streik mit einem Massaker an 2000 Landsleuten nieder.

Der 11. September ist zugleich der immer wiederkehrende, unabwendbare Versuch der Elite und dominierender Gruppen Chiles, im sozialen Gedächtnis eine von ihnen angestrebte historische Konstante zu verankern: dass das Eigentum, die Ausbeutung des Bodens, Silber, Gold, Weizen, Salpeter, Kupfer, Wälder und Gewässer nicht allgemeine Güter der Gesellschaft sind, sondern unantastbares Privateigentum kleiner Gruppen – nationaler oder ausländischer –, mit deren Wohlwollen auf alle Zeiten zu regieren sei. Dass die Tagelöhner, Künstler und Proletarier, früher oder später auch die Linke, der Feminismus, die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Ökologiebewegung und die indigenen Völker – den notwendigen Nachruck vorausgesetzt – zwar auch Vertreter im politischen System haben und an Wahlen teilnehmen können. Dass sie jedoch nie die Funktionsweise der Wirtschaft in Frage stellen dürfen.

Doch dieses Dogma scheitert jeden 11. September aufs Neue. Auf den Straßen und durch die Presse müssen die Eliten jedes Mal wieder erfahren, dass der Versuch, diese Wege und Räume zu verschließen, stets scheitern wird. Sie müssen erfahren, dass sich das soziale Gedächtnis neue Wege bahnt und neue Themen setzt. Und dass es bereit zu einem politischen Kräftemessen ist, indem die Erinnerung an vormalige Kämpfe mit den Forderungen unserer Zeit verknüpft werden. Trotz der tausenden Toten. Obwohl der ruhige Ton der Stimme von Präsident Allende nach der Übertragung auf Radio Magallanes für immer verstummte. Trotz des Massakers in der Schule Santa María de Iquique, des Schusses von Balmaceda, der »Befriedung« Südchiles.

Am 11. September wird in Chile, dass nicht der Name, die Fahne, die Farbe oder das Emblem von Bedeutung sind, sondern das, was von der Elite von jeher tabuisiert wurde: der Weg zur demokratischen Kontrolle und Vergesellschaftung. Das Wichtigste ist die Repolitisierung der Wirtschaft, damit sie, ebenso wie der Umgang mit unseren Bodenschätzen, unter eine stärkere soziale Kontrolle gestellt wird. Wer unter bitteren Bedingungen leben muss, kennt die Prioritäten: Gesundheit, Bildung, Arbeit, Obdach, eine würdige Rente, saubere Luft, sauberes Wasser und die Achtung der Rechte.

Die linken Bewegungen leben in dem Maße wieder auf, wie sie die Initiative ergreifen und die ernsthafte Debatte suchen. Sie zerreißen den Schleier der Trauer, indem sie sich besser organisieren und Umstände ansprechen, die strukturelle Veränderungen zur Stärkung der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit erlauben. Die 11. September sind Tage, an denen die Niederlage überwunden wird, Tage der Kritik, der Wiederaufnahme verhinderter und ausstehender Aktion, um weitere 11. September zu verhindern. Nicht aus Angst vor dem Tod. Sondern aus dem Willen, eine gerechtere, solidarischere und glücklichere Gesellschaft zu schaffen.

** Der Autor ist Soziologe an der Universidad de Chile. Harald Neuber übersetzte den Text ins Deutsche.

Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. September 2013



Was Allende versuchte

Neben einer Landreform und der Verstaatlichung der Kupferminen (Chiles bedeutendste Bodenschätze) und Banken begann die Unidad Popular nach ihrem Wahlsieg 1970, die soziale Lage der Menschen zu verbessern. Nicht alle Vorhaben konnten verwirklicht werden – zumal jene, die ihre Privilegien aufgeben mussten, das Land wirtschaftlich zu zerstören versuchten: Für den alltäglichen Bedarf produzierte Güter wurden zurückgehalten, der Preis für Kupfer auf dem Weltmarkt herunterspekuliert, die Devisen Chiles dadurch verknappt, Kredite der Weltbank, aus den USA und anderen Ländern eingefroren, chilenische Staatskonten in den USA beschlagnahmt. Was die Gegner der Unidad Popular dabei sabotierten, war u. a. dies:

Die Gehälter und Renten der höchsten Beamten wurden begrenzt, die Vetternwirtschaft sollte beendet werden. Regierungsfunktionären wurden Luxusreisen ins Ausland untersagt, Amtsfahrzeuge durften sie nicht mehr privat benutzen. Die Unidad Popular versprach: »Die Regierung wird aufhören, eine Fabrik der Reichen zu sein.«

Das Recht auf eine Rente wurde allen Menschen zugestanden, die älter als 60 Jahre sind. Untersuchungen und Medikamente in Krankenhäusern wurden kostenfrei. In den Schulen wurden Bücher, Schulhefte und -material kostenlos abgegeben, auch täglich ein halber Liter Milch für jedes Kind sowie kostenloses Frühstück und Mittagessen für Schüler aus armen Familien.

Ein »Notplan zum schnellen Wohnungsbau« sollte zugleich Trinkwasser und Strom für alle Haushalte garantieren und Arbeitsplätze schaffen. Die Mietkosten sollten auf zehn Prozent der Familieneinkommen begrenzt werden. Die Grundsteuer für selbst bewohnte Eigentumswohnungen bis zu 80 Quadratmetern sollte abgeschafft, ihre Erhebung auf große Villen der Wohlhabenden begrenzt werden. Es wurde begonnen, in allen Wohnvierteln Mutter-und-Kind-Kliniken aufzubauen und Stellen zur Rechtsberatung einzurichten. Jedes Wohnviertel sollte einen Sportplatz erhalten.

Alkoholismus sollte nicht durch repressive Maßnahmen, sondern durch die Schaffung besserer Lebensbedingungen bekämpft werden. Stärker bestraft werden sollte demgegenüber jede Form von Wirtschaftskriminalität.

jrs




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