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Politik im Schatten der Diktatur

Die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit ist noch lange nicht abgeschlossen

Von Harald Neuber *

36 Jahre nach dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende Gossens in Chile ergibt sich ein ambivalentes Bild: Die juristische Aufarbeitung schreitet zwar voran, doch das »System Pinochet« lebt im Staat weiter.

129 ehemalige Mörder und Folterer der Pinochet-Diktatur werden den heutigen 36. Jahrestag des Militärputsches in Chile in Haft erleben. Vor wenigen Tagen ließ Ermittlungsrichter Victor Montiglio Haftbefehle gegen Polizisten, Militärs und Geheimdienstmitarbeiter aus den Zeiten der Gewaltherrschaft (1973-1990) vollstrecken. Den Männern konnte die Beteiligung an mehreren Terrorkampagnen nachgewiesen werden, denen Hunderte Gegner des Pinochet-Faschismus zum Opfer fielen.

Montiglio hatte die Ermittlungen gegen politische Gewaltverbrecher 2006 von seinem Kollegen Juan Guzmán übernommen, der seit 1998 gegen Augusto Pinochet Ugarte und seine Schergen vorgegangen war. Die jüngsten Festnahmen betreffen maßgeblich zwei Militärkampagnen: Die »Operation Cóndor«, in deren Verlauf in den 70er Jahren in sechs diktatorisch beherrschten Staaten Südamerikas Hunderte Demokraten ermordet wurden. Und die »Operation Colombo«, der 1975 119 chilenische Oppositionelle zum Opfer fielen.

Die Festnahmen der 129 Delinquenten sind das jüngste Kapitel der juristischen Aufarbeitung der Diktatur. Beginn und Höhepunkt der Justizoffensive gegen die chilenischen Menschenrechtsverbrecher war die Festnahme Pinochets im September 1998 in London. Auch wenn der Despot bis zu seinem Tod im Dezember 2006 einer Haftstrafe entgehen konnte, wurde das Eis damals gebrochen. Heute sind Hunderte Verantwortliche für Verbrechen während der Diktatur zur Rechenschaft gezogen worden. Vor allem aber wurde in Chile eine längst überfällige Debatte über die faschistische Herrschaft angestoßen.

Dass diese Aufarbeitung der Vergangenheit noch lange nicht abgeschlossen ist, zeigte sich parallel zu den jüngsten Verhaftungen in Santiago de Chile. Mitte dieser Woche musste der Oberkommandierende der Armee, General Oscar Izurieta, vor der verteidigungspolitischen Kommission des Abgeordnetenhauses vorsprechen. Der Grund: Izurieta hatte zahlreichen Militärs und Geheimdienstmitarbeitern Pinochets Anstellungen bei der Armee verschafft. Nachdem die Zusammenarbeit öffentlich geworden war, musste der führende Militär die Verträge wieder kündigen. »Das ist ein schwerwiegender Zwischenfall«, schrieb die Wochenzeitschrift der Kommunistischen Partei Chiles, »El Siglo«: »Während Tausende ihrer Opfer, ehemalige politische Gefangene und Exilanten vergeblich auf nur einen Centavo Entschädigung warten, stehen die Menschenrechtsverletzer wieder auf der Gehaltsliste der Armee.« Weiter heißt es in dem Blatt: »Die Demokratisierung der Streitkräfte ist eine Aufgabe, die wir nun sehr ernst nehmen müssen.«

Das Erbe der Diktatur spielt auch eine zentrale Rolle im laufenden Wahlkampf. Am 13. Dezember wird in Chile nicht nur über die Nachfolge von Präsidentin Michelle Bachelet abgestimmt, auch die Mitglieder des Senats und des Abgeordnetenhauses werden neu bestimmt. Unlängst machte der ehemalige christdemokratische Präsident und Kandidat des Regierungsbündnisses, der Concertación, Eduardo Frei (1994-2000) überraschend den Vorschlag einer Verfassungsreform. Das geltende Grundgesetz wurde im Jahr 1980 – auf dem Höhepunkt von Pinochets Terrorherrschaft – nach neoliberalen und antidemokratischen Vorgaben verfasst. »Man wollte uns über Jahre hinweg weismachen, dass das wirtschaftliche Modell das Wichtigste für ein Land sei«, sagte Frei zu der Initiative einer Verfassungsreform, die er sogar in sein Wahlprogramm aufnahm: »Aber ich sage Ihnen, das Wichtigste ist die Verfassung.«

Der Christdemokrat handelt jedoch nicht aus eigener Motivation. Die demokratischen und linken Kräfte in Chile drängen mit zunehmender Vehemenz auf eine neue Staatsordnung. Erst dann, so heißt es von dieser Seite, sei die Diktatur überwunden. Ende August kamen die Parteien des Regierungsbündnisses mit Vertretern der KP und der Partei Christliche Linke zusammen, um eine Demokratisierung des politischen Systems zu beraten. Die Initiative für einen strategischen Pakt aller demokratischen Kräfte habe die im März 2005 verstorbene Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Chiles, Gladys Marín, bereits 1997 vorgeschlagen, erinnerte der KP-Vorsitzende Guillermo Teillier in einem Zeitungsinterview vor wenigen Tagen. Damals hätten die anderen Parteien den Vorschlag der Kommunisten abgelehnt. Dass ein erstes Sondierungsgespräch nun stattfand, erfreut Teillier: »Es ist das erste Mal, dass sich die Chance auf eine Überwindung der politischen Ausgrenzung bietet«, sagte er. Es wäre falsch, dies nicht zu nutzen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2009


"Ich träume immer noch die gleichen Träume"

Zeitzeugen des Militärputsches erinnern sich an den letzten Tag der Regierung Allende

Von Jorge Luna Prensa Latina/ND, Santiago de Chile **

Mitten in den Kampagnen für die Präsidentschaftswahlen am 13. Dezember begehen die Chilenen am heutigen Freitag nach politischen Lagern getrennt den Jahrestag des Militärputsches, der 1973 Präsident Allende stürzte.

Akademische Untersuchungen besagen, dass heute viele unterschiedliche Versionen des 11. September 1973 bestehen. Je mehr Zeit verstreicht, desto blasser wird die Erinnerung. Prensa Latina hat vor dem Jahrestag die Berichte von drei Zeitzeugen dokumentiert. Sie sind unterschiedlichen Alters, arbeiten aber alle als politische und progressive Journalisten. Dies sind ihre Zeugnisse.

Lucía Sepúlveda

Lucía Sepúlveda war zum Zeitpunkt des Putsches 27 Jahre alt und im dritten Monat schwanger. Mit ihrem Genossen, dem bekannten Journalisten Augusto »Pelao« Carmona, versuchte sie, zu La Moneda zu gelangen.

»Wir konnten unserem Auftrag nicht nachkommen, also kehrten wir zur Zeitschrift 'Punto Final' zurück. Aber in der Redaktion war niemand. Wir schlossen uns daraufhin den Korrespondenten von Prensa Latina an, die im gleichen Gebäude in unserer Etage ihre Büros hatten. Wir waren sehr nah am Präsidentenpalast La Moneda.

Ich war Fernsehreporterin, mein Genosse 'Pelao' arbeitete für 'Radio Nacional', das der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) gehörte. All der Horror konzentrierte sich in diesen Stunden, an diesem Tag - dem längsten Tag meines Lebens.

Ich hörte im Radio von den Militärerlassen, nach denen bekannte Politiker und Journalisten in das Verteidigungsministerium zitiert wurden. Zugleich hörte ich die Kampfflugzeuge 'Hawker Hunter', die den Präsidentenpalast angriffen. Wenig später erfuhren wir von dem Tod unseres Kollegen Augusto Olivares, der als Berater von Präsident Salvador Allende Gossens in La Moneda war. Seit diesem Tag waren wir überzeugte Mitglieder des Widerstandes. 'Pelao' sollte nie wieder als Journalist arbeiten. Am 7. Dezember 1977 wurde er von der Diktatur ermordet.«


Eduardo Contreras

Eduardo Contreras war der erste Anwalt, der eine Klage gegen Augusto Pinochet einreichte. Er ist Kolumnist der kommunistischen Wochenzeitung »El Siglo«.

»Ich war damals 33 Jahre alt und ein kommunistischer Abgeordneter in der Stadt Chillán. In der Nacht vor dem Putsch war ich in diese Stadt - ich war dort Bürgermeister - zurückgekehrt. Der sozialistische Abgeordnete Rogelio de la Fuente war bei mir. Wir hatten verschiedene Aktivitäten mit Arbeitern und Bauern organisiert.

Trotz unserer Müdigkeit entschlossen wir uns, nach Santiago zu fahren. Am nächsten Tag, am Dienstag, dem 11. September, sollten wir in La Moneda Salvador Allende treffen. Er wollte uns Anweisungen für eine geplante Volksbefragung geben. Wir arbeiteten in Santiago in der Nacht noch etwas und fuhren am Morgen umgehend los. Weil unser Auto kein Radio hatte, bekamen wir von dem Putsch nichts mit. Wenige Häuserblöcke vor dem Präsidentenpalast hielten uns Passanten an, um uns zu warnen. Es gab kein Durchkommen mehr.

Wir gingen zu den Orten, an denen wir von der Partei eingesetzt werden sollten, um für die Volksbefragung zu werben. Ich ging in eine Fabrik. Dort hörte ich die letzte Rede von Allende, und dort erfuhren wir von seinem Tod. Es gab keine Möglichkeit, den Kampf aufzunehmen. Ich entschied mich gegen eine Rückkehr nach Chillán - zu meinem Glück. Militär und Polizisten ermordeten dort fast alle bekannten linken Aktivisten.

Ich ging in den Untergrund und später ins Exil: 1974 nach Panama, ab 1975 nach Kuba, 1978 nach Mexiko. Nach dem Exil habe ich den Kampf von damals wieder aufgenommen, ich träume immer noch die gleichen Träume.«


b> Manuel Cabieses

Der Journalist und Autor Manuel Cabieses ist unter anderem dafür bekannt, dass er es schaffte, die linke Zeitschrift »Punto Final« in der Diktatur weiter zu verlegen. Als Aktivist der MIR war er zwei Tage nach dem Militärputsch festgenommen und in mehreren Konzentrationslagern interniert worden. Später gelang ihm die Ausreise nach Kuba, von wo aus er in den Untergrund nach Chile zurückkehrte.

»Eigentlich war der Putsch erwartet worden, seit einige Wochen zuvor ein Panzerregiment einen Aufstand angezettelt hatte. Ich arbeitete damals nebenbei als Reporter für die abendlich erscheinenden 'Noticias de Última Hora', eine Zeitung der Sozialistischen Partei. Die Redaktion befand sich nur fünf Blocks von La Moneda entfernt.

Meine Frau war im Hospital, wo sie als Krankenschwester arbeitete, unsere Kinder waren in der Schule. Die Busse fuhren normal und die Lage in der Stadt war ruhig. Dann sah ich an einem Kiosk die Ausgabe des 'Punto Final' mit den Nachrichten.

In der Redaktion dieser Zeitung traf ich einige Kollegen. Sie hörten die Nachrichten im Radio und besprachen das Vorgehen. Wir beschlossen, eine Sonderausgabe herauszubringen. Das hatten wir schon am 29. Juni getan, als das Panzerregiment rebellierte. Wir verteilten die Aufgaben. Ich sollte zum Nationalkongress gehen und Stellungnahmen einholen.

Als wir uns aber mit der Druckerei Horizonte in Verbindung setzten, die der Kommunistischen Partei gehörte, wurden wir über die Lage informiert, denn die Genossen waren besser informiert. Sie überzeugten uns von der Naivität unseres Vorhabens. Dennoch entschieden wir uns, in der Redaktion zu bleiben. Vielleicht könnten wir ja später die geplante Sonderausgabe herausbringen.

Von der Terrasse des Gebäudes beobachteten wir dann die Angriffe der 'Hawker Hunter' auf La Moneda. Mit einem batteriebetriebenen Taschenradio hörten wir die letzte Nachricht von Allende. Wir konnten nicht glauben, was geschah.

Als sich die Rauchschwaden verzogen, sahen wir den Präsidentenpalast in Trümmern. Das Symbol eines 'anderen' Chile war zum gespensterhaften und tragischen Sinnbild für das Ende einer Epoche geworden. Es hatte eine neue Geschichte begonnen, deren Ende auch heute noch offen ist.«


Übersetzung: Harald Neuber

** Aus: Neues Deutschland, 11. September 2009


Chronik: Was dem Putsch folgte

11.9.1973: Blutiger Militärputsch und Tod Salvador Allendes; Bildung einer Junta unter General Augusto Pinochet.

25.11.1975: »Operación Cóndor« beschlossen. Vertreter Chiles, Argentiniens, Uruguays, Brasiliens, Paraguays und Boliviens (später auch Perus) verabreden, geplant und organisiert von Manuel Contreras Sepúlveda, Chef des chilenischen Geheimdienstes DINA, die »Operación Cóndor« als gemeinsame Aktion gegen »kommunistische Subversion« und zur »Verteidigung der christlichen Gesellschaft«. Bei den staatsterroristischen Aktionen gegen linke Oppositionelle werden in den folgenden Jahren schätzungsweise 50 000 Menschen ermordet, 400 000 inhaftiert, 350 000 »verschwinden«.

9.12.1975: Vereinte Nationen verurteilen Menschenrechtsverletzungen in Chile.

5.10.1988: Referendum über eine weitere Amtszeit Pinochets als Präsident: 54,6 Prozent Neinstimmen.

14.12.1989: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen; Sieger ist der Christdemokrat Patricio Aylwin Azócar, Kandidat eines Parteienbündnisses.

8.2.1991: Wahrheits- und Versöhnungskommission legt Bericht über Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur vor.

13.11.1993: Ex-DINA-Chef Manuel Contreras Sepúlveda wird im Mordfall des früheren Außenministers Orlando Letelier zu sieben Jahren Haft verurteilt.

19.8.1998: Senat beschließt Abschaffung des Jahrestages des Militärputsches als Feiertag.

16.10.1998: Pinochet wird in London aufgrund eines internationalen Haftbefehls des spanischen Richters Baltasar Garzón wegen Menschenrechtsverletzungen festgenommen und unter Hausarrest gestellt.

2.3.2000: Pinochet kehrt nach über 16 Monaten aus London nach Chile zurück; britische Regierung hatte Auslieferungsgesuche u. a. Spaniens, Frankreichs und Belgiens abgelehnt.

1.12.2000: Einleitung eines formellen Strafverfahrens gegen Pinochet (wegen Entführung und Totschlags in 57 Fällen); am 11. 12. vom Berufungsgerichtshof verworfen.

7.1.2001: Präsident Ricardo Lagos legt Bericht über das Schicksal »verschwundener« Personen während der Diktatur vor (ca. 200 Fälle; Menschenrechtler nennen knapp 1200).

29.1.2001: Neuerliche Anklageerhebung gegen Pinochet (Hausarrest).

15.4.2003: DINA-Chef Contreras wird zu weiterer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt (im Mai 2004 weitere 15 Jahre Haft).

26.8.2004: Oberstes Gericht hebt Pinochets Immunität auf.

23.11.2005: Pinochet wird unter Hausarrest gestellt.

10.12.2006: Pinochet stirbt im Alter von 91 Jahren; es kommt zu Trauerbekundungen und Freudenfeiern mit teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen; Pinochet bekommt kein Staatsbegräbnis, wird aber mit militärischen Ehren beigesetzt.

30.6.2008: Contreras wird wegen der Ermordung des ehemaligen Heereschefs General Carlos Prats und seiner Frau im argentinischen Exil 1974 zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt.




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