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Der andere 11. September

Vor 30 Jahren putschten in Chile die Generäle

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das anlässlich des 30. Jahrestags des Putsches gegen Salvador Allende in der Schweizer Wochenzeitung WoZ aufgezeichnet wurde.


Vor dreissig Jahren putschten in Chile die Generäle. Der Schriftsteller Luis Sepúlveda gehörte zur persönlichen Leibgarde des Präsidenten Salvador Allende. «Mit Ekel» gab er der jetzigen Regierung von Ricardo Lagos seine Stimme.

WOZ: Wie alt waren Sie, als Salvador Allende und die Unidad Popular 1970 in Chile die Wahlen gewannen?

Luis Sepúlveda: Ich war gerade 21 Jahre alt und hatte mich stark in Allendes Wahlkampagne engagiert. Als guevaristischer Linker nahm ich eine verantwortliche Stellung innerhalb der Unidad Popular ein. Aber mein grösster Stolz ist es, zur persönlichen Leibwache von Präsident Allende gehört zu haben, zum «schrecklichen Gap» (Grupo de Amigos Personales).

Als der Putsch am 11. September 1973 begann, befanden Sie sich allerdings nicht bei den Gap-Kämpfern, die den Präsidenten in seinem Regierungssitz in der Moneda verteidigten?

Nein. Zu diesem Zeitpunkt war ich verantwortlich für den Schutz des Wasserwerks Bizcacha, das Trinkwasser für den Grossraum Santiago lieferte. Auf die Wasserversorgung hatten die Rechten immer wieder Anschläge verübt. Mit einer Gruppe schlecht ausgerüsteter Genossen haben wir diese Anlage sechs Monate lang verteidigt.

Aber vom Putsch wurden Sie dennoch überrascht?

Es ging alles sehr schnell. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass die Regierung zusammenbrach. Trotz unseren revolutionären Ansichten glaubten die meisten von uns, dass auch die Rechten die demokratischen Institutionen des Landes respektieren würden. Chile war schliesslich eine alte Demokratie, mit einer 120-jährigen Tradition, auch wenn es in dieser dunkle Kapitel gab.

Wie ist Ihre persönliche Erinnerung an den 11. September 1973?

Ich kam morgens um sechs Uhr vom Wasserwerk nach Hause. Die Strassen waren ungewöhnlich ruhig. Wir hatten sehr konfuse Informationen erhalten. Um etwa halb acht – ich hatte mich gerade hingelegt – weckte mich meine Freundin und sagte: «Hör mal, das Radio, es passiert etwas Schreckliches.» Es war noch unter Regierungskontrolle und sandte alle fünf Minuten verschlüsselte Losungen. So wussten wir: Der Putsch war gekommen.

Wie reagierten Sie?

Die Zerschlagung des ersten Widerstandes erfolgte sehr schnell und war entsetzlich. Die Putschisten, von den Nordamerikanern instruiert, zerstörten zunächst unsere Kommunikationssysteme, bombardierten die Sender. Unsere komplette Infrastruktur brach zusammen. Dennoch beschlossen wir, auf die Strasse zu gehen. Im südlichen Sektor Santiagos, in San Miguel, wo ich wohnte, wurde drei Tage lang sehr hart gekämpft. In dieser Zone befand sich der Industriegürtel Santiagos, und die Arbeiter setzten sich, unterstützt von den internationalistischen Genossen – Brasilianer, Argentinier, Uruguayer, Kolumbianer, Venezolaner – erbittert zur Wehr. Aber es war ein Widerstand ohne grosse Koordination. Viele der politischen Führer hatten sich bereits abgesetzt, und wir hatten kaum Waffen.

Was passierte, wenn man den Putschisten in die Hände fiel?

Die Exekutionen fingen am Mittag des 11. September an. In Santiago stellten sie Schilder auf: «Jeder Widerstand wird mit dem Tode bestraft und vor Ort vollzogen.» Von den 33 Gap-Mitgliedern, die sie lebend aus dem Regierungspalast, der Moneda, herausholten, verschwanden 23 spurlos. Nur zehn blieben am Leben. Und so begann ein Horrorzyklus, der sechzehn Jahre fortdauern sollte.

Was machten Sie, als der Widerstand in der chilenischen Hauptstadt zusammenbrach?

Ich blieb noch bis zum 20. September in Santiago. Mir gelang es, mit Arnaldo Camu Kontakt aufzunehmen. Er war Leiter des militärischen Apparats der Sozialistischen Partei, ein sehr mutiger Typ. Auch er glaubte an die von Radio Moskau verbreitete Propaganda, dass sich im Süden Chiles loyale Truppen um General Prats zum Gegenschlag sammelten. Naiv wie wir waren, formierten wir eine Gruppe von vierzig Militanten, um sie in den Süden zu schicken. Ich ging mit ihnen. Wir gelangten bis Temuco. Dort war absolut nichts, die Truppen existierten nicht.

In Temuco wurden Sie dann verhaftet?

Wir kannten in Temuco einige indianische Führer, die uns versteckten. Es war am 5. Oktober 1973, einen Tag nach meinem Geburtstag. Ich erinnere mich noch genau – wir hatten tags zuvor Frösche gejagt und meinen Geburtstag mit einer Mahlzeit aus Fröschen gefeiert. Im Morgengrauen wurde das Haus umstellt. Jeder Widerstand war zwecklos. Ich war noch am besten bewaffnet. Ich besass eine 45er-Pistole und zwei Patronen.

Wie erging es Ihnen im Gefängnis?

Es ist ein schwarzer, dunkler Abschnitt in meinem Leben. Ich sass sieben Monate in Isolationshaft, in einem Loch ohne jegliche Kommunikation. Danach vergingen zwei weitere Jahre, bis ich dank der Intervention von Amnesty International einem Militärgericht vorgeführt wurde. Es war eine totale Farce. Mein Verteidiger war Leutnant der Armee. Ich wurde erst zu lebenslänglich, dann zu 28 Jahren Haft verurteilt. Ich war 23 Jahre alt. Und ich hatte schliesslich unglaubliches Glück. Diese wunderbare junge Frau von Amnesty in Hamburg setzte sich für mich ein. Der Zufall wollte es, dass sie die lateinamerikanische Literatur liebte und ein paar meiner Erzählungen kannte, die in der DDR schon veröffentlicht worden waren.

Das war also die Verbindung, die Sie später für einige Jahre nach Hamburg führte?

Ein bisschen hat das damit zu tun. 1976 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen, lebte kurz in der Klandestinität und wurde erneut festgenommen. Im Juli 1976 sollte ich über Argentinien nach Schweden abgeschoben werden. Ich wollte aber nicht nach Schweden und blieb zunächst in Argentinien, in Buenos Aires. Ich befand mich in einer unmöglichen Situation. Fast alle meiner Freunde waren «verschwunden», verhaftet oder im Exil. Überall hatte das Militär die Macht ergriffen. Wir sassen in der Falle. Argentinien, Uruguay. Der Weg nach Brasilien war ebenfalls versperrt. So gelangte ich schliesslich über den Landweg wieder auf die pazifische Seite, nach Ecuador. Dort war die Diktatur vergleichsweise harmlos. Für viele Südamerikaner war Ecuador eine Rettungsinsel, um die weitere Flucht vorzubereiten.

Und dann beschlossen Sie, nach Nicaragua zu gehen?

Die Sandinisten bereiteten in Nicaragua ihre Schlussoffensive vor. Zusammen mit anderen lateinamerikanischen Genossen sowie einigen europäischen beschlossen wir, sie zu unterstützen, und gründeten die Brigade Simón Bolívar. Im Februar 1979 reisten die ersten zwei Kampfeinheiten nach Nicaragua, ich folgte mit einer weiteren im Mai. Unser Frontabschnitt an der nicaraguanischen Atlantikküste war hart umkämpft. Die sandinistischen Kämpfer waren sehr jung, sehr mutig und starben sehr früh. Ich glaube, durch unsere militärische Erfahrung konnten wir ihnen einige Tote ersparen. Wir hatten natürlich immer die Absicht, den Widerstand in Chile zu organisieren und dorthin zurückzukehren. Aber Nicaragua war 1979 viel attraktiver. Für einmal hatten wir die Möglichkeit, den Himmel mit den Händen zu berühren. Die liessen wir uns nicht entgehen, und wir haben gesiegt.

Nach der Revolution haben Sie Nicaragua aber schnell wieder verlassen. Warum?

Der verkappte Stalinismus der sandinistischen Führer gefiel mir nicht. Mir gefielen ihre Vorurteile nicht, gegenüber allem, was sie nicht kannten. Sie konnten Trotzkisten nicht leiden, ohne zu wissen, was Trotzkisten sind. Sie hassten Anarchisten, ohne einen zu kennen. Und sie folgten den Ratschlägen der Kubaner, als ob diese eine Bedienungsanleitung für die Revolution in der Tasche hätten. Wir vom Conosur (Chile, Argentinien, Uruguay) waren keine Heiligen, aber wir hatten eine sehr strenge Moral, die für alle galt. Niemand durfte sich etwas aneignen, was ihm nicht zustand. Zwei Monate nachdem sie die Macht übernommen hatten, begannen die sandinistischen Führer bereits, sich die besten Häuser zu sichern. Im Januar 1980 habe ich Nicaragua wieder verlassen.

Sind Sie jetzt nicht etwas arg streng?

Diese Symptome mögen halb so schlimm erscheinen im Vergleich zur nordamerikanischen Aggression gegenüber Nicaragua während der folgenden sieben Jahre. Aber die sandinistische Führung entfernte sich von der Realität einer sehr armen Bevölkerung. Man begann wie im osteuropäischen Sozialismus an die Statistiken einer selbst geschaffenen Wirklichkeit zu glauben. Die Revolutionäre verloren die Fähigkeit zur Selbstkritik. Sehr erschöpft verliess ich Nicaragua mit einer Kugel im Körper, die mir sehr zu schaffen machte. In einem kubanischen Militärspital wurde mir die Kugel entfernt, und ich wurde sehr gut gepflegt. Ich verliess Kuba und ging nach Europa.

Alle Ihre Romane handeln auf die eine oder andere Weise von Chile und der chilenischen Geschichte, obwohl sie seit vielen Jahre nicht mehr dort leben.

Vieles geht um Erinnerung. Graham Greene hat einmal gesagt, dass die Kindheit das Kapital eines Schriftstellers ist. In dieser Phase des Lebens setzen sich die Eindrücke am stärksten im Gedächtnis fest. Und ich muss zugeben, dass es mir ziemlich angenehm ist, Geschichten über ein Land zu erzählen, das es so heute nicht mehr gibt. Es sind Erzählungen über eine Erzählung, eine Fiktion der Fiktionen.

Wann sind Sie das erste Mal wieder nach Chile gereist?

Das war Ende 1989, als die Diktatur vorbei war. Ich hatte die Absicht zu bleiben, aber die Rückkehr verlief traumatisch. Alles, an was ich mich erinnerte, existierte nicht mehr, und ich wurde melancholisch.

Es gab keine Freunde mehr, Freundschaften, Familie, alles weg?

Doch, doch, die gab es. Aber das Wunderbarste, was dieses Land einmal ausmachte, eine Gesellschaft mit humanistischen Werten und sozial denkenden Menschen, war verschwunden oder absolut minoritär. Jetzt hat sich das wieder etwas geändert. Eine neue Generation hat sich die Fähigkeit zur Kritik wieder angeeignet. Letzten März war ich zum Beispiel in Santiago von der Stärke von Attac sehr überrascht. Ohne eine Partei zu sein, können sie spontan 10 000 Menschen mobilisieren. An einer Demonstration gegen den Irak-Krieg nahmen 18 000 bis 19 000 Leute teil. Aber die ganzen neunziger Jahre in Chile waren schrecklich. Die Mehrheit glaubte tatsächlich, dass sie in einem Siegerland leben würde: Chile, der Tiger Lateinamerikas.

Nun wurde 2000 mit Ricardo Lagos zum ersten Mal wieder ein Sozialist Präsident Chiles. Wie beurteilen Sie diesen Regierungswechsel?

Lagos ist kein Sozialist.

Er kommt aus der sozialistischen Partei Chiles. Können Sie dem Regierungswechsel überhaupt nichts Positives abgewinnen?

Nein, nichts. Ich habe Gladis Marin von der kommunistischen Partei im Wahlkampf unterstützt, auch wenn ich nicht in allen Dingen mit ihr übereinstimme. In der zweiten Wahlrunde haben wir, einige Schriftsteller und Intellektuelle, dann für Lagos gestimmt. Aber mit Ekel, wir wollten in der Stichwahl mit den Rechten unsere Stimmen nicht verschenken.

Ihrer Meinung nach ist diese Regierung also nicht auf dem richtigen Weg, um die Dinge in Chile grundlegend zu verbessern?

Diese Regierungskoalition besteht aus Christdemokraten, die ihren Anteil an der Geschichte des Putsches leugnen, und recycelten Sozialdemokraten, die sich an ihre Wurzeln nicht mehr erinnern mögen. Im Grunde wollen sie nur das ökonomische System der Diktatur politisch besser verwalten. Die jetzige Verfassung Chiles stammt in vielem aus der Diktatur und richtet sich nicht nach den Interessen des Landes. Wenn ein wirtschaftliches Modell wichtiger sein soll als die ethischen Fundamente einer Gesellschaft, was soll man dann erwarten? Die Regierung Lagos hat die Auslieferung chilenischer Militärs wegen der Menschenrechtsverbrechen an die ausländische Justiz stets blockiert. Und das Bildungs- und Gesundheitswesen ist privatisiert. Wenn du kein Geld hast, schickst du deine Kinder halt nicht in die Schule und fertig. Und wenn du krank wirst und kein Geld hast, dann stirbst du. Es geht mir nicht darum, zu den Zeiten Allendes zurückzukehren. Aber Chile muss sich seiner heutigen Realität stellen. Und die ist die eines unterentwickelten Landes, eines Drittweltstaates in Abhängigkeit.

Interview: Andreas Fanizadeh und Eva-Christina Meier, Gijon



45 Millionen Franken
Nach dem Putsch der Militärs um General Augusto Pinochet flohen etwa 150.000 Menschen ins Ausland. Von der Luftwaffe in seinem Regierungspalast am 11. September 1973 bombardiert, wählte Präsident Allende den Freitod. Tausende Chilenen wurden gefoltert und ermordet. Bis heute ist die Bewertung der damaligen Ereignisse umstritten geblieben, viele der Verbrechen der Diktatur wurden bislang nicht gesühnt. Die demokratisch geführte Regierung von Ricardo Lagos hat Ende August angekündigt, die Opfer oder deren direkte Angehörige mit etwa 45 Millionen Franken entschädigen zu wollen. Den schwierigen Umgang mit dem Erbe der südamerikanischen Diktaturen hat auch die Ausstellung «Alltag und Vergessen» zum Anlass, die diesen Freitag in Zürich in der Roten Fabrik eröffnet wird.


Aus: WoZ, 4. September 2003


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